Ausgerechnet in München, einstmals Hitlers »Hauptstadt der Bewegung«, fand 1992 eine Konzertreihe mit dem wegweisenden Titel »Festival for New Radical Jewish Music« statt. Zu hören und sehen gab es Auftritte der sogenannten New Yorker Downtown-Szene um den Komponisten und Saxofonisten John Zorn. Mit dabei waren Stars wie Lou Reed und John Lurie, aber auch Nachwuchskünstler, die damals noch nahezu unbekannt waren, deren Namen heute aber für die Erneuerung der jüdischen Musik stehen: Frank London, Marc Ribot, David Krakauer, Roy Nathanson, Elliot Sharp und Shelley Hirsch. Mit folkloristischem Jideln und Fideln, mit dem jüdische Melodien oft verbunden wurden und werden, hatte das, was in München präsentiert wurde, wenig gemein. Die jungen Leute, die aus New York in die bayrische Hauptstadt gekommen waren, suchten eine neue Antwort auf die Frage, wie sich ihr jüdisches Selbstbewusstsein in der Musik von heute widerspiegeln könne.
Knitting Factory Inzwischen sind fast zwei Jahrzehnte vergangen. Die »Radical Jewish Culture« ist mittlerweile nicht nur ein eigenes Genre. Sie ist auch museumsreif. Das »Musée d’Art et d’Histoire du Judaisme« in Paris präsentiert erstmals überhaupt die Bewegung in einer Ausstellung, die begleitet wird von einer Reihe von Konzerten. Zu sehen gibt es Schallplattencover und Fotos von frühen Wegbereitern wie dem Beat-Poeten Allen Ginsberg, dem Musikcomedian Mickey Katz und dem Popkomponisten Irving Fields. Daneben Notenblätter, Skizzen und Plakate von Konzerten der Knitting Factory, jenem sagenumwobenen Club im East Village, dessen Bühne der Kreißsaal der Bewegung war. Dort haben sie Anfang der Achtziger alle gestanden und erprobt, was später unter der Bezeichnung »Radical Jewish Culture« subsumiert wurde. Oft wurde nur – mal mehr, mal weniger gelungen– in musikalischer Form darüber nachgedacht, wie die Melodien der Vorfahren einst im fernen Osteuropa geklungen haben mögen. Glücklicherweise ist von diesen Versuchen nicht alles auf Vinyl gepresst worden, wenngleich bei der Suche nach den Klängen von einst einiges wiederentdeckt wurde, das bis dahin in Archiven versauerte.
ergraut Spannend an der Ausstellung sind vor allem die Audio- und Video-Interviews mit den Protagonisten, die, inzwischen schon ein wenig ergraut und längst nicht mehr so wild wie zu Anfangzeiten, Rede und Antwort stehen, um zu erklären, was das denn sein könne: Jüdische Musik, die radikal ist. John Zorn erzählt, dass er nach Jahren des Spielens mit immer denselben jüdischen Musikern einen Punkt erreicht hatte, an dem jüdische Melodien nur so aus ihm herauszusprudele begannen. Inzwischen umfasst seine Sammlung, das Masada-Songbook, um die 300 Stücke. Als Zorn dann aber erläutern soll, was denn das Jüdische an diesen nur wenige Skalen umfassenden Melodien ist, wechselt der Meister flugs das Thema. Also wieder keine Antwort auf die Frage: Was ist jüdische Musik? Aber wenigstens eine gelungene Ausstellung.
Radical Jewish Culture. Bis 18. Juli im Musée d’Art et d’Histoire du Judaisme, 71, rue du Temple, 75003 Paris
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