Die Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg (HfJS) hat dem Direktor des Jüdischen Museums Berlin, W. Michael Blumenthal, am Mittwoch die Ehrendoktorwürde verliehen. Damit wird Blumenthals Wirken für die Erschließung und Vermittlung des jüdischen Erbes in Deutschland und Europa gewürdigt. Der erste Prorektor der HfJS, Johannes Heil, überreichte Blumenthal die Urkunde in einer feierlichen Zeremonie im Walther-Bensemann-Foyer der Hochschule. Heil beschrieb den neuen Ehrendoktor als »Mann, der durch sein hervorragendes Wirken Zugänge zum jüdisch-deutschen Erbe schafft und sich ganz darauf eingelassen hat«.
W. Michael Blumenthal wurde 1926 in Oranienburg geboren. 1939 gelang es seiner Familie und ihm, nach Shanghai zu flüchten. 1947 wanderte Blumenthal in die Vereinigten Staaten aus. In den 50er-Jahren lehrte er als Wirtschaftsprofessor an der Princeton University, in den 60ern wechselte er in die Politik und war von 1961 bis 1967 Mitarbeiter des US-Außenministeriums sowie handelspolitischer Berater der Präsidenten Kennedy und Johnson. Von 1977 bis 1979 war er Finanzminister der Regierung Carter.
Wir dokumentieren im Folgenden in Auszügen die Dankesrede von W. Michael Blumenthal »Deutsche Juden im 21. Jahrhundert«:
Als ich über den heutigen Tag nachdachte, wurde mir bewusst, dass die Hochschule und das Jüdische Museum einiges gemeinsam haben. Erst einmal sind die Existenz und die Rolle, die beide heute in Deutschland spielen, ein wirkliches Wunder. Niemand hätte sich in den frühen Nachkriegsjahren im Schatten der Schoa vorstellen können, dass in Deutschland noch einmal irgendeine Form jüdischen Lebens, geschweige denn Institutionen wie die unseren, existieren und gedeihen würden. (...)
Und doch sind wir heute, in einem Deutschland, das (...) wieder rund 250.000 jüdische Einwohner hat, die viert- oder fünftgrößte jüdische Gemeinde der Welt – und eine derjenigen, die am schnellsten wächst. (...)
Nicht nur die beinahe 200.000 sogenannten Kontingentflüchtlinge, die in den 90er-Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion kamen, sondern auch ein anhaltender Zufluss von anderen jüdischen Zuwanderern, viele von ihnen Enkel und Urenkel der Schoa-Generation, die überraschenderweise auch aus Ländern wie Israel und den Vereinigten Staaten hierherkommen. Ich treffe sie oft, in Berlin und anderswo, unter ihnen geschätzte 20.000 oder mehr (meist junge) Israelis; etwa acht- bis zwölftausend von ihnen haben in den vergangenen fünf Jahren sogar die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Und, als ein weiteres Beispiel, habe ich von einem jungen amerikanischen Juden gelesen, einem Enkel von Holocaust-Überlebenden, der nicht nur hier lebt, sondern auch voller Stolz bei internationalen Hockeyspielen die deutschen Nationalfarben trägt. (…)
diaspora Keiner von uns jedoch befasst sich unmittelbar mit der Zukunft – also mit dem jüdischen Leben in Deutschland in den kommenden Jahren und der Frage, wie ein stärker geeintes Europa und eine globalisierte Welt dieses Land für die Juden, die hier leben werden, prägen könnte. (...) Das erscheint mir nicht unwichtig, und darüber möchte ich heute etwas sagen.
Das deutsche Judentum gehört in den breiteren Kontext des heutigen jüdischen Lebens in der Diaspora. (...) Nach 1948 übte der neue jüdische Heimatstaat eine starke psychologische Anziehung auf Juden in aller Welt aus, und große, aufeinanderfolgende Wellen von Zuwanderern aus Europa, dem Nahen Osten und Afrika fanden dort Zuflucht. Viele Beobachter erwarteten, dass das Anwachsen der jüdischen Bevölkerung Israels unaufhaltsam weitergehen würde, während das Diaspora-Judentum aus vielen Gründen stagnierte oder sogar im Niedergang begriffen war. Langfristig, glaubte man, würde die Zukunft des weltweiten Judentums in Israel liegen und nicht mehr in der restlichen Welt.
Neuere Entwicklungen werfen die Frage auf, ob diese Prognosen immer noch gerechtfertigt sind. Aus verschiedenen Gründen scheint Israel in jüngster Zeit nicht mehr die gleiche Anziehung auf Diaspora-Juden auszuüben wie früher. Israels jüdische Bevölkerung wächst nur noch langsam, und am Horizont zeichnet sich keine neue größere Welle jüdischer Zuwanderung ab. Umgekehrt erweist sich das jüdische Leben außerhalb Israels – und nicht nur in Deutschland – als stärker und stabiler als erwartet; falls es Anzeichen für Stagnation oder Niedergang gibt, so sind diese schwer wahrzunehmen. (...)
Europa Auch jenseits des Wachstums in Deutschland scheint sich die Gesamtzahl der Juden, die in Europa leben, bei geschätzten 1,6 bis 1,8 Millionen stabilisiert zu haben, obwohl es schwer ist, in Deutschland und anderswo präzise Daten zu bekommen. In den größeren Ländern – Frankreich und Großbritannien zum Beispiel – sind die jüdischen Gemeinden aktiv und sehr lebendig. In Osteuropa wie Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik sind sie klein geblieben und haben sicherlich nichts mehr von ihrer Vorkriegsgröße behalten. Trotzdem schrumpfen auch sie nicht mehr – im Gegenteil: Es gibt Anzeichen, dass das jüdische Leben dort wiedererwacht, dass es sich allmählich, aber stetig erholt. (...)
Viele von uns werden, ob in Nord- oder Südamerika oder Europa – ja, auch in Deutschland –, weiterhin als Teil einer Minderheit leben, die selten mehr als ein bis zwei Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. So ist es in den vergangenen 2.000 Jahren gewesen, und so wird es aller Wahrscheinlichkeit nach auch in der Zukunft sein.
Wie man außerhalb Israels offen und fruchtbar als Jude leben kann, auch als Zionist (als jemand also, der die rechtmäßige Existenz eines jüdischen Staates befürwortet und unterstützt), und zugleich ein zufriedener Bürger eines anderen Landes sein kann – das wird wohl ein wichtiges Thema für uns alle und unsere Kinder und Enkel bleiben. (...) Lassen Sie mich darum auf die besondere Situation in Deutschland zurückkommen. (...)
Minderheit Zunächst war es eine sehr kleine Gruppe von jüdischen Menschen, die in den Groß- und ein paar kleineren Städten gelandet war und dort mehr oder weniger zusammengeballt unter sich lebte. (…) Irgendwann aber wurde ihre dauerhafte Präsenz in diesem Land zu einer Realität. Kinder wurden geboren, Wurzeln geschlagen, Existenzen aufgebaut, und damit schwächte sich diese defensive, abgeschottete Haltung, vor allem für die in Deutschland geborenen Nachkommen, allmählich ab.
Nichtsdestoweniger ist es weiterhin eine Tatsache, dass für die Generation der Überlebenden – jene also, die die Schoa am eigenen Leib erlebt haben – und die heutigen Vorstände in den Gemeinden und im Zentralrat diese Haltung bis heute noch nicht ganz verschwunden ist. Ihre emotionale Bindung an Israel bleibt ausgesprochen stark und eine parallele deutsche Identität schwer zu akzeptieren. Sie halten fest an ihrem Selbstbild, eine besondere Minderheit in Deutschland mit spezieller Geschichte und besonderen Rechten zu sein. Sie leben als Juden in Deutschland, nicht als deutsche Juden.
Die neue Realität lässt solche immer noch weit verbreiteten Auffassungen jedoch zunehmend obsolet wirken. (...) Viele von ihnen sind heute in das Leben in Deutschland voll integriert und benötigen keine spezielle Aufmerksamkeit oder besondere Obacht mehr. Studenten, Künstler, Akademiker, Freiberufler und Unternehmer – sie alle schämen sich nicht mehr, hier zu leben. Manche sind religiös, andere nicht; einige haben sich einer Gemeinde angeschlossen, die meisten nicht; kaum jemand von ihnen scheint ernsthafte Schwierigkeiten zu haben, sich Mitbürgern gegenüber als Jude zu definieren. (…) Auch ist der Antisemitismus hier nicht größer als anderswo, im Gegenteil: eher ist hier und da eine Art Philosemitismus zu bemerken. (...)
Kosmopolitisch Je mehr die deutschen Juden aufhören, etwas Besonderes zu sein, desto mehr wird sich ihre Situation und die damit verbundenen existenziellen Fragen an die der amerikanischen und anderen westeuropäischen Juden angleichen. Dort haben multiple Zugehörigkeiten – zu dem Land, dessen Bürger man ist, zu einem der besonderen Herkunft geschuldeten ethischen und kulturellen Erbe oder zu einer religiösen Gemeinschaft – seit Langem aufgehört, ein Widerspruch oder ein Problem zu sein. Auch für die Juden gilt das voll und ganz. Man kann stolzer Bürger sein, sich gleichzeitig auch mit dem Judentum und jüdischer Kultur und Tradition identifizieren und sich auch zu der Befürwortung und Unterstützung Israels als jüdischer Staat und Heimat für 40 Prozent des weltweiten Judentums bekennen.
Ich bin mir selbstverständlich dessen bewusst, dass die Geschichte einer Nation dabei immer eine wichtige Rolle spielt. In den Vereinigten Staaten ist es lange Tradition, dass die Loyalität eines Bürgers nicht wegen seiner Religion oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe infrage steht. Ich weiß, dass dies in Deutschland historisch nie in der gleichen Weise der Fall war, vor allem nicht für die Juden. Im 19. Jahrhundert war es ein Quell großer Frustration und des Schmerzes für sie, und in meinem Buch Die Unsichtbare Mauer berichte ich zum Beispiel von dem Leid zweier meiner Vorfahren, Rahel Varnhagen und Giacomo Meyerbeer, in genau diesem Punkt. Trotz des vielen Beifalls für ihre Errungenschaften blieben sie in den Augen der Deutschen immer andersartig (»kosmopolitisch« lautete das Codewort), nie wurden sie als echte Deutsche angesehen.
Doch auch hier hat sich diese Einstellung schon weitgehend, wenn auch nicht vollkommen geändert. (...) Nicht nur schwindet das antijüdische Ressentiment in Deutschland und in der westlichen Welt; die digitale Revolution hat auch viele der vorherrschenden Haltungen fundamental revidiert. »Kosmopolitisch« ist nicht länger ein Stigma und hat für deutsche Ohren keinen abwertenden Beiklang mehr. Echtzeitkommunikation und offene Grenzen haben die ethnische Vielfalt vergrößert und in den Köpfen vieler für eine differenziertere Definition von »Deutschsein« gesorgt. Hier wie anderswo scheint mir, dass die Elemente der Zugehörigkeit der Bürger im Fluss sind und diffuser werden. (...)
Zugehörigkeit Die Kernfrage darum lautet: Was ist es genau, das einen Juden in der heutigen Welt ausmacht, wie er sich als Jude definiert, wenn nicht über den religiösen Glauben? Woraus besteht für säkulare Juden in der modernen Welt der Kitt, der sie an ihr jüdisches Erbe bindet? Ist er stark genug, um ihre Identität als Jude neben vielfältigen anderen Zugehörigkeiten zu erhalten? Und welche Chancen, aber auch Pflichten erwachsen daraus?
Meine eigene, zugegebenermaßen sehr persönliche Antwort auf diese Fragen brauchte eine gewisse Zeit der Reifung. Ich bin in einer deutsch-jüdischen Familie aufgewachsen, die sich nicht näher mit jüdischen Angelegenheiten befasste und sich darüber auch nicht allzu viel Gedanken machte. Mit meinen Eltern floh ich in eine schwierige Existenz in China, wo ich zum ersten Mal ohne großes Vergnügen über diese Dinge nachdachte. Staatenlos, verarmt, frustriert und scheinbar von der Welt vergessen und verlassen kam mir das Jüdischsein oft vor wie eine Laune des Schicksals und eine unbequeme Last mit wenigen greifbaren Vorzügen.
Heute ist mir klar, dass es genau diese ersten Berührungen mit dem Reichtum des sehr gemischten jüdischen Lebens im Shanghaier Ghetto und später das Erleben eines vielfältigen amerikanischen Judentums in meiner neuen Heimat waren, die mein jüdisches Bewusstsein gefestigt haben und die Grundlage für meine lebenslange, bedingungslose jüdische Identität bildeten. Mir wurde bewusst, wie auch mich gemeinsames jüdisches Schicksal, Traditionen, geschichtliche Erfahrungen und Werte geprägt haben und wie sehr es mich an das Judentum bindet, an meine jüdisch-amerikanischen Mitbürger, an meine deutsch-jüdischen Freunde, aber auch an Juden in aller Welt. Dass diese Werte tiefe, religiöse Wurzeln haben, ist mir auch als säkularer Jude vollkommen klar.
werte In der Enge des Ghettos und unter dem Eindruck eines enormen Drucks von außen, aber auch in der Vielfalt des amerikanischen Judentums unter freien und demokratischen Bedingungen, sah ich, dass ich einem Volk mit einzigartigen religiösen und ethischen Werten angehöre und tief damit verbunden bin, dass sie meine Identität unauslöschlich geprägt und ihr auf sehr persönliche Weise Bedeutung verliehen haben.
Es sind Werte, die auch in der gesamten zivilisierten Welt tiefe Spuren hinterlassen haben, denn sie gelten für die ganze Menschheit: die Liebe zum Lernen, Achtung der Gesetze, Bindung an Familie und Tradition, Toleranz, Menschenliebe, Wohltätigkeitssinn, Mitgefühl für die Armen, Unterdrückten und weniger Glücklichen der Welt.
Und auch jene Werte, die aus Tausenden Jahren gemeinsamer historischer Erfahrung und einem gemeinsamen Schicksal erwachsen sind, wie abstraktes Denken, intellektuelle Errungenschaften, Anpassungsfähigkeit und Flexibilität des Geistes, Sinn für Humor und eine Art, mit einem ethischen Rüstzeug und einer gesunden Mischung skeptischer Ironie auf eine unvollkommene Welt und die Begabung des Menschen zum Guten wie zum Schlechten zu blicken.
Ich bin, wie schon erwähnt, kein Wissenschaftler der Jüdischen Studien. Daher ist diese Aufzählung sicher unvollständig und mangelhaft. Doch auf meine eigene begrenzte Weise drückt sie das aus, was ich fühle und was mein Leben als säkularer Jude geprägt hat. Das ist auch für viele andere so, und so wird es auch für viele deutsche Juden sein und bleiben. (...)