Es gibt in der deutschsprachigen Literatur tatsächlich noch Autoren, die den Roman als Erkenntnisinstrument begreifen: Sie glauben unverdrossen daran, unsere Gegenwart per Fiktion durchdringen und die unter der Oberfläche der Schlagzeilen, Timelines und Newsfeeds liegenden Mechanismen durchschaubar machen zu können. Der Österreicher Robert Menasse ist so ein Autor. Ein tollkühner Matador, der den Stier der Gegenwart bei den Hörnern packt.
Das ist eine Metapher, die zum Stoff seines neuen Romans passen würde. Denn dem Mythos zufolge wurde Europa, die schöne Königstochter, von dem in einen Stier verwandelten Zeus nach Kreta entführt – die Geburt eines Kontinents aus einem göttlichen Seitensprung. Das hatte eindeutig mehr Sex als die Römischen Verträge, der Gründungsakt der Europäischen Union, damals noch EWG.
Obwohl Griechenland für die Lage der EU heute keine geringe Rolle spielt, rast bei Menasse kein liebestoller Stier durch Athen, sondern ein wild gewordenes Schwein durch Brüssel und versetzt Passanten, Medien und Behörden der belgischen Hauptstadt in Aufregung. Ein Spuk? Eine Massenhysterie? Ein Zeichen der nahen Apokalypse? Oder schlicht eine Polit-Aktion der europäischen Schweinemastlobby, die Druck auf die anstehenden EU-Verhandlungen mit China ausüben will?
borstenvieh Menasse benutzt das Schwein als Symbol für sein Erzählen. Es stiftet durch sein reines Vorkommen einen Zusammenhang, der äußerlich rein zufällig ist, aber dennoch von Bedeutung. Im Prolog des Romans kreuzt das Tier die Wege aller Hauptfiguren am Brüsseler Place Sainte-Catherine, so wie der Autor die Biografien seiner Figuren zu seinem Roman verdichtet. Einer, der das Schwein von seiner Wohnung aus beobachtet, ist Martin Susman, ein österreichischer Mitarbeiter der EU-Kommission, ein Single in der Midlife-Crisis.
Martins Bruder Florian leitet nicht nur einen der größten Schweineproduktionsbetriebe Europas, sondern ist auch Präsident von »The European Pig Producers« und versucht als solcher, den Einfluss Martins auf den Brüsseler Apparat zu nutzen. Freilich gehört Martin zur Generaldirektion für Kultur, in EU-Beamtenkreisen besser bekannt als »Arche Noah«, was schon die ganze Verachtung der Brüsseler Karrieristen auf den Punkt bringt. »Wenn ›die Kultur‹ gesagt wurde, dann hatte das einen Unterton, es klang so, als würden Wall-Street-Broker ›Numismatik‹ sagen, das Hobby eines verschrobenen Verwandten.«
Kulturpolitik und Schweineexport – diese beiden Pole wählt Menasse, um Alltag und Funktionsweise der Brüsseler Bürokratie exemplarisch zu schildern. Sie stehen zugleich für Ideal und Wirklichkeit Europas, für die hehre Utopie der engen Verbindung einst verfeindeter Nationen und die profane Realität endlosen Feilschens um Posten, Milchquoten und Subventionen.
Man merkt, dass Menasse jahrelang vor Ort in Brüssel recherchiert, in Archiven gearbeitet und sich an den Treffpunkten der europäischen Spitzenbeamten umgetan hat. Diese intime Vertrautheit mit den Mentalitäten und dem Alltag der merkwürdigen Spezies Berufseuropäer merkt man dem Roman auf jeder Seite an. Zugleich ist es Menasse gelungen, die Menge an Material auf wenige, äußerst einprägsame Figuren und Handlungsstränge zu reduzieren.
Einerseits ist das ein Thrillerplot – gleich zu Beginn geschieht ein Auftragsmord, dessen Aufklärung durch die belgische Polizei aber offenbar von höherer Stelle verhindert wird –, andererseits ein bürokratisches Großunternehmen zur Feier des 50. Jahrestags der Gründung der Europäischen Kommission, das »Big Jubilee Project«.
schoa Für seine Chefin, die aus Zypern stammende Karrierebeamtin Fenia Xenopoulou, konzipiert Martin ein Jubiläumsfest, in deren Zentrum die Erinnerung an die Schoa und das Zeugnis der letzten Auschwitz-Überlebenden stehen soll. Ihnen gibt auch Menasse eine Stimme, in Gestalt von David de Vriend, der vereinsamt in einem Brüsseler Altenheim sein Leben noch einmal an sich vorüberziehen lässt. Die Erinnerungen des alten Juden bilden den Gegenpol zum geschäftigen, zukunftsversessenen Aktionismus der EU-Metropole und ihrem neoliberalen Fortschrittsglauben.
Von Martin Susman, dem Kulturbeamten, heißt es einmal, er hätte eigentlich »Vorgeschichtenerzähler« werden wollen, genauer: Archäologe. Doch auch die Geschichte der EU, so legt Menasse nahe, beginnt nicht mit den Römischen Verträgen. Ihre Vorgeschichte umfasst eben den Zweiten Weltkrieg und den Zivilisationsbruch der Schoa, der die Völker auf unserem Kontinent zu einer Zukunft von Frieden und Freiheit geradezu verpflichtete. Dass dieses Ethos in Brüssel noch lebendig ist, Bürokraten- und Expertentum hin oder her, zeigt Menasse unter anderem an Fenia: »Sie lebte und arbeitete schon zu lange in Brüssel, um sich noch mit Patriotismus zu beschäftigen.« Geschickt lässt Menasse über die Biografien seiner Figuren unterschiedliche Nationalgeschichten einfließen, bei Xenia etwa den Zypernkonflikt. Der flüchtige Auftragsmörder wiederum ist ein Pole, der in seiner Familiengeschichte ein Jahrhundert des Widerstands und Unabhängigkeitskampfes spiegelt.
Das »Big Jubilee Project«, das von einer Auschwitz-Reise Martins seinen Ausgang nimmt und am Ende in den nationalen Empfindlichkeiten und Egoismen versickert, spielt deutlich auf die »Parallelaktion« in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften an – jenem immer inhaltsleerer werdenden Vorhaben zur Feier des Thronjubiläums des österreichischen Kaisers. Mit Musil teilt Menasse vor allem den Anspruch, eine Epoche auf den Begriff zu bringen und ein denkbar abstraktes Gebilde in einen Roman zu fassen.
projekt Mit Musils Essayismus hat Menasses Poetik erzähltechnisch indes wenig zu tun. Und die Ideen hinter dem »Jubilee Project« werden auch nicht ironisch gebrochen, sondern sind tatsächlich der Kern von Menasses Europa-Begriff. In einer Nebenhandlung hält der renommierte Nationalökonom Alois Erhart einen Vortrag vor einer europäischen »Reflection Group« und schlägt vor, die Hauptstadt der EU nach Auschwitz zu verlegen, »geplant und errichtet als Stadt der Zukunft, zugleich die Stadt, die nie vergessen kann. ›Nie wieder‹ ist das Fundament, auf dem das Europäische Einigungswerk errichtet wurde.«
Auch wenn hier eine Romanfigur spricht, meint Menasse dieses kühne Gedankenspiel durchaus ernst. Auf dem Cover des Romans ist eine stilisierte Darstellung des Kommissionsgebäudes zu sehen – flankiert von Wachtürmen wie in Auschwitz. Der Titel des Romans ist also doppelbödig: Natürlich ist Die Hauptstadt ein Brüssel-Roman, aber eben auch eine Reflexion über die Vorgeschichte der EU, die bis in die Vernichtungslager reicht.
Seitenhiebe auf die Gegenwart, zumal die seines Heimatlandes, verteilt Menasse ohnehin immer noch ausreichend. Einmal beginnt ein Abschnitt augenzwinkernd mit lupenreinem Musil-Sound: »Rund 86 Milliarden Neuronen kommunizierten, in Millisekunden fanden an Tausenden Zellen komplexe elektrische Prozesse statt, chemische Botenstoffe taten ihre Schuldigkeit und die Synapsen funktionierten, kurz: Der österreichische Außenminister dachte nach.«
madonna Im Folgenden erledigt dieser das »Jubilee Project« in Mittäterschaft mit seinem ungarischen Kollegen und widmet sich lieber einem Fragebogen der Frauenzeitschrift »Madonna«, unter anderem der Kategorie »Lieblingsbuch«. Sein Pressesprecher rät: »Es ist in Österreich Tradition, dass Politiker bekennen: Der Mann ohne Eigenschaften. Drunter geht es eigentlich nicht. Und Tabu ist auf jeden Fall ein lebender Autor. Die Leut wollen keinen Lebenden.«
Am Montag wurde Menasse für seinen Roman mit dem Deutschen Buchpreis geehrt. Vollkommen zu Recht. Sein Buch ist unterhaltsam und ernst zugleich, lehrreich, ohne didaktisch, und spannend, ohne reißerisch zu sein. Mörderische Knalleffekte bietet die Realität leider schon genug, auch in Brüssel. Aber auch das ist eine Lehre aus Europas Geschichte: dass Terror und Mord nicht das letzte Wort haben.
Robert Menasse: »Die Hauptstadt«. Roman. Suhrkamp, Berlin 2017, 459 S., 24 €