Großvater Seev Tavori ist zu einer Zeit aufgewachsen, als Männer zwei Patronen zum Üben, sieben für den Kampf und zehn zum Gründen eines Staates bekamen. Da ist es nur folgerichtig, dass er von seinen Eltern, als er Ende der 1920er-Jahre aus Galiläa aufbricht, ein Gewehr, eine Kuh, einen Baum und eine Frau mitgegeben bekommt. Und zwar genau in der Reihenfolge. Mehr braucht einer für den Anfang nicht.
Also zieht Seev guten Mutes los und gründet mit seinem Freund Nachum Nathan einen Moschaw. Als Gärtner bestellt er fleißig sein Land. Doch sein Samen will nicht aufgehen. Seine Ehefrau wird nicht schwanger. Schon in der Hochzeitsnacht versagt der sonst so harte Mann. In der zweiten Nacht muss er fortwährend an seine Pein denken, und es klappt wieder nicht. Und in der dritten Nacht muss er an die zweite denken. Die beiden bleiben kinderlos.
Schwanger Eines Tages aber ertappt Seev seine Frau Ruth, wie sie ihn mit Nachum betrügt. Als sie auch noch schwanger wird, erledigt Seev die Angelegenheit auf seine Art. Er erschießt den Freund. Weil in dem Moschaw in diesem Jahr 1930 schon zwei andere Bauern sich das Leben genommen haben, lässt Seev den Mord wie Selbstmord aussehen. Einem seiner Nachbarn, der Zeuge war, verspricht er eine Kuh und die Schuhe des Toten.
Als das uneheliche Kind zur Welt kommt, entführt Seev es, lässt es sieben Tage lang schreien, bis es verhungert ist. Das Dorf schweigt aus Furcht. Nur die Eichelhäher ahmen die jämmerlichen Schreie des Säuglings nach. Jahrelang tönt ihr Ruf in der Luft wie Spott. Selbst Seev mit seinem Gewehr kann sie nicht vertreiben. Die Siedlergemeinschaft ist von nun an auf einer Lüge gegründet.
Die Geschichte im Zentrum von Meir Shalevs Roman Zwei Bärinnen, der im vergangenen Jahr in Israel und in einer einfühlsamen Übersetzung von Ruth Achlama jetzt auch auf Deutsch erschienen ist, treibt einem Schauer über den Rücken. Es ist ein episches Buch über die Macht der Männer und das Leid der Frauen.
Ein Buch über Rache und Gewalt, die in immer neuer Gewalt gipfelt. Über drei Generationen folgt Meir Shalev den Familien der Siedler, über deren Leben die böse Saat des Großvaters wie ein dunkler Schatten liegt. Erst als der Alte in der Wüste von Banditen ermordet wird, wirkt seine Sippe erlöst. Beinahe wie ein Hohn erscheint es, dass dort unter dem Maulbeerbaum, wo nichts wachsen wollte, jetzt ein Blumenmeer erblüht, weil der Alte beim Sterben ein Säckchen mit Samen verloren hat.
metaphern Zwei Bärinnen ist ein symbolisch stark aufgeladenes Buch. Geschrieben in einer archaisch anmutenden Sprache, voll von biblischen Motiven und Metaphern. Obwohl die Siedlerproblematik auf der Hand liegt, gibt es keinerlei Hinweise auf Palästinenser oder das heutige Israel.
Glaubt doch Meir Shalev nicht an die »Mischung aus Kunst und Politik« und will seine Romane nicht als Instrument einsetzen. »Der Fakt, dass ich aus Israel komme, kann mich nicht dazu bewegen, ein politischer Autor zu werden«, sagt der 1948 während des Unabhängigkeitskrieges im Kibbuz Nahalal geborene Schriftsteller.
Politisch äußert Shalev sich in seinen Kolumnen für die Zeitung Yedioth Ahronoth und als Moderator der TV-Sendung »Erev Shabbat«. Dort spricht er sich klar für die Rückgabe der 1967 eroberten Gebiete und eine Zweistaatenlösung aus. In seiner Belletristik aber geht es ihm um mehr.
Als Parabel taugt der Roman auch deswegen nur bedingt, weil er nicht chronologisch angelegt ist, sondern die Handlungsstränge sich erst nach und nach zu einer Familiengeschichte fügen. Erzählt wird alles von Seevs etwas geschwätziger Enkelin Ruta. Eigentlich soll sie der jungen Warda, die eine Forschungsarbeit über die Geschichte des Jischuw schreiben will und dafür Interviews mit Nachkommen der Gründerfamilien des Moschaw führt, von ihren Vorfahren berichten. Doch sie gerät vom Hundertsten ins Tausendste, und der Leser muss ihr unweigerlich folgen. Das ist mitunter mühsam.
Männertour Auch Ruta selbst hatte ein hartes Schicksal. Hat sie doch ihren sechsjährigen Sohn Netta verloren. Ihr Ehemann Etan macht eines Tages einen Ausflug mit dem Kind in die Negevwüste. Eine »Männertour«, wie er sagt, um den Jungen auf die Herausforderungen des Lebens vorzubereiten.
»Bring ihm lieber Tischsitten oder Chinesisch bei«, sagt die Mutter. »Das ist wichtiger als Feueranzünden oder Schlangentöten.« Aber der Ehemann entgegnet: »Eine Giftschlange ist eine Giftschlange. Wenn sie zu dir nach Hause kommt … willst du dann Chinesisch mit ihr sprechen?« Er zieht mit dem Sohn los, und das Unglück nimmt seinen Lauf.
Das Kind wird wirklich von einer Otter gebissen und stirbt. »Was ist denn mit dir los, Gott? Wir sind nicht mehr in der Bibel«, klagt die Mutter. »Nun lass mal gut sein mit deinen ägyptischen Plagen, mit den Serafim und den Schlangen und mit Getreidebrand und Rost und Geschwüren und Aussatz. Wir sind schon weiter. Heute kann man auf einem Zebrastreifen überfahren werden, bei einem Anschlag in die Luft fliegen, Überdosis, freundliches Feuer, unfreundliches Feuer, Flugzeugabsturz. Was hast du mein armes Kind angefallen mit deiner ältesten Nummer?«
bibel Gekonnt hält Meir Shalev die Spannung bis zum Schluss aufrecht. Erst als mit dem Tod des alten Seev das Prinzip der männlichen Gewalt und der Vergeltung aus der Welt geht, findet seine Familie Ruhe. Wie die titelgebenden Bärinnen schauen die hilflosen Frauen bei allem zu. Schon in Esaus Kuss (1991) und Judiths Liebe (1994) spielte Shalev mit biblischen Themen, weil er als Atheist, wie er einmal sagte, nicht wolle, dass »nur religiöse Juden« die heilige Schrift in Beschlag nehmen.
Immer wieder auch kehrt er wie in Fontanelle (2002) oder Meine russische Großmutter und ihr amerikanischer Staubsauger (2012) zu der frühen Gründergeneration Israels zurück. Sind es doch die Wurzeln und der Boden, die dafür verantwortlich sind, ob ein Baum gesund wächst und eine Zukunft hat.
Meir Shalev: »Zwei Bärinnen«. Roman. Deutsch von Ruth Achlama. Diogenes, Zürich 2014, 458 Seiten, 22,90 €