Weltkrieg

Möglichkeit zur Menschlichkeit

Vor Ephraim Kishon gab es Mosche Ya’akov Ben-Gavriêl. So wie jener in den 60er-Jahren, prägte dieser schon in den 50ern das Israelbild der Westdeutschen. Seine humoristischen Romane und Geschichtensammlungen wie Frieden und Krieg des Bürgers Mahaschavi (1952) oder Kumsits. Geschichten aus der Wüste (1956) waren seinerzeit Bestseller und sind heute ebenso in Vergessenheit geraten wie ihr Autor.

Ben-Gavriêl wurde 1891 als Eugen Hoeflich in Wien geboren, nahm als Soldat am Ersten Weltkrieg teil und versuchte sich anschließend als Autor von Fortsetzungsromanen. 1927 wanderte er nach Palästina aus, nannte sich fortan Mosche Ya’akov Ben-Gavriêl, kämpfte in der Hagana und im Zweiten Weltkrieg als Freiwilliger der britischen Armee. Nach dem Krieg wurde er hauptberuflich Journalist und Schriftsteller, feierte seine größten literarischen Erfolge, da er ausschließlich auf Deutsch schrieb, allerdings in der Bundesrepublik, wiewohl einige seiner Werke auch in hebräischer Übersetzung erschienen.

Ein solches Werk war der Roman Jerusalem wird verkauft oder Gold auf der Straße, den Ben-Gavriêl 1940 auf der Grundlage seiner Tagebücher aus dem Ersten Weltkrieg schrieb und der 1946 in Tel Aviv auf Hebräisch veröffentlicht wurde. Einen deutschen Verleger fand er nie, da der ernste zeitgeschichtliche Hintergrund des Romans nicht zu Ben-Gavriêls Image des leichten Unterhaltungsschriftstellers passte. Nun erscheint der Text – 51 Jahre nach dem Tod des Autors – zum ersten Mal im deutschen Original in dem kleinen Wuppertaler Arco-Verlag.

Armenier Der Ich-Erzähler Dan, »Einjährig-Freiwilliger Offiziersaspirant vom bosnisch-herzegowinischen Infanterieregiment Numero zwei«, wird zum Leutnant befördert und zum Kommandanten der k.u.k-Truppen in Jerusalem ernannt – wie im realen Leben der Soldat Eugen Hoeflich. Dort findet er sich in der Situation wieder, gemeinsam mit den Deutschen und den Türken gegen die Briten kämpfen zu müssen – auf dem Rücken der einheimischen Juden und Araber.

Schon auf der Zugfahrt von Konstantinopel nach Jerusalem wird Dan zum Zeugen zahlreicher Kriegsgräuel; Deutsche und Türken kommen dabei nicht gut weg, die Engländer allerdings auch nicht viel besser. Zwar nur en passant, dafür immer wieder, wird der Völkermord an den Armeniern erwähnt. »Ein Offizier zeigt mir mit Stolz eine Flöte, geschnitzt aus den Knochen eines armenischen Kindes, die er für das Hofmuseum in Wien mitbringt. – Ich hoffe, daß die englischen Soldaten drüben zumindest eine von den Pyramiden als Andenken an diesen lustigen, feinen Krieg nach London stehlen werden«, berichtet Dan so lakonisch wie angewidert.

Ist Jerusalem wird verkauft auch autobiografisch grundiert, so ist es doch fiktionalisiert. Der Autor verteilt seine eigenen Erlebnisse und Beobachtungen auf zwei Figuren: den Nichtjuden Dan und seinen jüdischen Freund und Armeekameraden Walter Zinner, dem er in Jerusalem begegnet.

Panasianismus Dort werden sie Zeugen, wie die k.u.k.-Truppen sich bereichern und amüsieren, während die Bevölkerung leidet, Armenier, Juden und Araber gefoltert, ausgehungert und abgeschlachtet werden. Dan und Walter befürchten ein Blutbad der Türken an der Bevölkerung Jerusalems, eine neue »Bartholomäusnacht«: »Jerusalem gleicht einer vom Feind, von einem barbarischen, unberechenbaren, jedes Völkerrecht verachtenden Feind besetzten Stadt. In aller Weltgeschichte wird diese Zeit kein Gleichnis finden.«

Am Ende wird das Allerschlimmste durch den Sieg der Briten unter General Allenby noch einmal verhindert. Dan steht trotzdem nicht der Sinn nach Heimkehr. »Was willst Du in Europa?«, fragt er seinen Freund Walter. »Europa ist der Wahnsinn. Europa ist der Mord, der technische Mord in jeder Form, ob es Krieg gibt oder nicht. Siehe: Hier im Osten aber ist zumindest potentiell noch die Möglichkeit zur Menschlichkeit vorhanden.«

Der Autor lässt hier aus dem Munde Dans seine Idee des »Panasianismus« bzw. »Pansemitismus« anklingen, der zunächst Juden und Araber, dann alle Völker des Ostens zu einer Gemeinschaft zusammenschließen wollte, die ein Gegengewicht zum europäischen Kolonialismus bilden sollte. Auch daraus wurde bekanntlich nichts.

Archivschätze Jerusalem wird verkauft ist der erste Band der neuen Reihe »Europa in Israel«, die von Doerte Bischoff, Alfred Bodenheimer und Stefan Ritt herausgegeben wird. In dieser Reihe sollen nach und nach Werke von »weniger oder gar nicht (mehr) bekannten deutschsprachigen Autorinnen oder Autoren, deren Nachlässe ganz oder zu einem großen Teil in israelischen Archiven liegen«, erscheinen, wie es in der Nachbemerkung heißt.

Die an der Reihe beteiligten Institutionen sind das Archiv der National Library of Israel in Jerusalem, die Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur der Universität Hamburg und das Zentrum für Jüdische Studien der Universität Basel. Das Manuskript zu Jerusalem wird verkauft fand sich in der israelischen Nationalbibliothek, in der Ben-Gavriêls Nachlass verwahrt wird, und wurde von Sebastian Schirrmeister, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hamburger Forschungsstelle, für den Druck eingerichtet und mit einem ausführlichen Nachwort sowie einem Glossar versehen.

Die Reihen-Herausgeber rufen Literaturwissenschaftler und andere thematisch Interessierte ausdrücklich dazu auf, selbstständig weitere Schätze aus israelischen Archiven zu bergen und in der Reihe herauszugeben.

Mosche Ya’akov Ben-Gavriêl: »Jerusalem wird verkauft oder Gold auf der Straße«. Roman. Hrsg. und mit einem Nachwort von Sebastian Schirrmeister. Arco, Wuppertal 2016, 255 S., 22 €

Haushaltslage im Land Berlin

Topographie des Terrors befürchtet Programmeinschränkungen

Stiftungsdirektorin Andrea Riedle sieht vor allem die Bildungsarbeit gefährdet

 26.12.2024

Rezension

Fortsetzung eines politischen Tagebuchs

In seinem neuen Buch setzt sich Saul Friedländer für die Zweistaatenlösung ein – eine Vision für die Zeit nach dem 7. Oktober ist allerdings nur wenig greifbar

von Till Schmidt  26.12.2024

Medien

Antisemitische Aggression belastet jüdische Journalisten

JJJ-Vorsitzender Lorenz Beckhardt fordert differenzierte und solidarische Berichterstattung über Jüdinnen und Juden

 26.12.2024

Rezension

Ich-Erzählerin mit böser Wunde

Warum Monika Marons schmaler Band »Die Katze« auch von Verbitterung zeugt

von Katrin Diehl  25.12.2024

Bräuche

»Hauptsache Pferd und Kuh«

Wladimir Kaminer über seine neue Sendung, skurrile Traditionen in Europa und einen Kontinent in der Krise

von Nicole Dreyfus  25.12.2024

Dessau

»Was bleibt«

Am Anhaltinischen Theater setzt Carolin Millner die Geschichte der Familie Cohn in Szene – das Stück wird Anfang Januar erneut gespielt

von Joachim Lange  25.12.2024

Kolumne

Aus der Schule des anarchischen Humors in Minsk

»Nackte Kanone« und »Kukly«: Was mich gegen die Vergötzung von Macht und Machthabern immunisierte

von Eugen El  24.12.2024

Rezension

Die Schönheit von David, Josef, Ruth und Esther

Ein Sammelband bietet Einblicke in die queere jüdische Subkultur im Kaiserreich und der Weimarer Republik

von Sabine Schereck  24.12.2024

Kultur

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 19. Dezember bis zum 2. Januar

 23.12.2024