Maxim Biller

»Mögen Sie Opportunisten?«

»Marcel Reich-Ranicki war aus viel härterem Material als ich«: Maxim Biller Foto: imago

Herr Biller, unter Journalistenkollegen gelten Sie als blitzgescheit, zugleich sagt man, es sei unmöglich, mit Ihnen ein Interview zu führen. Bekommen Sie eigentlich selbst mit, dass Sie furchtbar nerven können?
Es ist eine absurde Idee, zu behaupten, mit mir könne man keine Interviews machen. Solche Leute sind Angsthasen, weil sie denken, ich könnte etwas sagen, wovon sie sich erst einmal drei Tage erholen müssen. Ich finde mich in dieser Beschreibung nicht wieder. Ihre Kollegen sollten sich fragen, warum sie so schlecht im Nehmen sind.

Andersherum gefragt: Warum bemühen Sie sich so sehr, ein jüdischer Ekel Alfred zu sein?
Wie kann eine jüdische Zeitung nur so eine gojische Frage stellen?

Warum sollte eine jüdische Zeitung diese Frage nicht stellen?
Wollen wir uns jetzt wirklich mit Gegenfragen mattsetzen?

Warum nicht? Aber gut, machen wir weiter. Hatten Sie nie das Bedürfnis, wie Roger Willemsen oder Jakob Augstein, von der Öffentlichkeit gemocht zu werden?
Mögen Sie Opportunisten?

Stellen Sie jetzt die Fragen? Keiner mag Opportunisten. Doch ihr Leben ist mutmaßlich viel weniger anstrengend als das eines Ruhestörers.
Ja, es ist anstrengend, so wie ich zu sein. Aber noch anstrengender ist es, sich zu verstellen. Ich kenne Menschen, die irgendwann implodieren vor lauter Anpassungsanstrengung. Die sind mit 50 nur noch Hüllen ihrer selbst, und alles, woran sie mit 25 glaubten, haben sie an ihre Angst und ihre Bausparverträge verkauft. Selbst wenn ich wollte: Ich kann nicht anders. Wer sich in die Öffentlichkeit begibt, muss mit Gegenwind rechnen. Und letztlich ist die Provokation ja kein Selbstzweck.

Sondern?
Durch die offene Diskussion, die in vielen Tonlagen und mit vielen intellektuellen Kunstgriffen geführt wird, können wir der Wahrheit am Ende der Diskussion ein bisschen näherkommen. Stellen sie sich vor, Spinoza hätte – aus Angst vor der Verbannung aus der Amsterdamer portugiesischen Synagoge – geschwiegen. Dann wären wir heute nicht so weit, wie wir es sind.

Was antworten Sie auf die Frage, was die Quelle Ihrer gesammelten Gemeinheiten ist?
Mal so, mal so. Im Literarischen Quartett zum Beispiel bin ich nur eine Art Kunstfigur. Das würden Sie schnell merken, wenn Sie mich privat kennen würden. Stellen Sie sich mal vor, wie entsetzlich langweilig die Sendung wäre, wenn ich mich nicht aufregen würde. Zugleich hoffe ich natürlich, dass ich dort ab und zu auch etwas Sinnvolles sage. Es ist immer besser, wie Mel Brooks auf Speed zu klingen als nach einem deutschen Hochschulprofessor nach drei Tassen Kamillentee.

Ist Marcel Reich-Ranicki in dieser Hinsicht ein Vorbild für Sie gewesen?
Nein. Bissig und unterhaltsam bin ich auch ohne Marcel Reich-Ranicki immer gewesen. Er hat mir aber, als ich vor 30 Jahren anfing zu arbeiten, gezeigt, dass es gut ist, so zu sein und zu bleiben. Dass ich mich nicht scheuen sollte, mich aufzuregen und pointiert zu urteilen. Wobei er als Angehöriger der Kriegsgeneration aus viel härterem Material war als ich. Ich bin sicherlich empfindlicher als er. Es hat ihn nie gestört, dass ihn die meisten seiner sogenannten Kollegen hinter vorgehaltener Hand – manchmal auch ganz offen – furchtbar gehasst haben. Wertschätzung erfuhr Reich-Ranicki im Prinzip erst, nachdem er das Quartett abgegeben hatte.

Die Fehde zwischen Marcel Reich-Ranicki und Sigrid Löffler ist legendär. Es scheint, als würden Sie in Ihrem Umgang mit Christine Westermann genau dort anknüpfen wollen.
Frau Westermann ist ein Vollprofi. Wir beide sind ein geniales Team.

Sind Sie sich sicher, dass sie das auch so sieht?
Ich schwöre beim Leben des Hundes meiner Mutter! Die Diskussionen zwischen Frau Westermann und mir im Literarischen Quartett sind für sie vermutlich so etwas wie die Fortsetzung ihrer Sendung Zimmer frei!. Und bei mir sind sie die Fortsetzung der endlosen Diskussionen mit meiner Schwester – in ihrem Zimmer wohlgemerkt.

Lassen Sie uns über Ihren neuen, fast 900 Seiten starken Roman sprechen. Der Plot ist zugegebenermaßen ziemlich abenteuerlich. Wie würden Sie die Handlung beschreiben?
Warum ist sie abenteuerlich? Sind Sie sicher, dass Sie den Roman wirklich zu Ende gelesen haben? Es ist die Geschichte zweier bester jüdischer Freunde, die in Deutschland landen, weil ihre Familien – die eine aus dem Kommunismus, die andere aus dem Holocaust – nach Deutschland gespült wurden. Der eine, Noah Forlani, ist Millionärssohn und hat ein wahnsinnig schlechtes Gewissen, weil er geerbt hat. Darum versucht er, das ganze märchenhafte und unverdiente Vermögen wieder loszuwerden, indem er es spendet und die verrücktesten NGOs gründet. Der andere, Solomon Karubiner, ist ein Schriftsteller, der aus einer kommunistischen jüdischen Familie kommt und von einem deutschen Schriftsteller mit einem Video erpresst wird, das ihn bei einer nicht sehr originellen sexuellen Praktik in der Öffentlichkeit zeigt. Beide fliehen irgendwann aus Deutschland, weil sie merken, dass es für sie nicht möglich ist, als Juden in der Bundesrepublik ein ganz normales Leben zu führen. Das war doch ganz einfach, oder?

Inwieweit ist Noahs und Solomons Wunsch nach Normalität zum Scheitern verurteilt?
Ihre Familiengeschichten stecken in jeder ihrer Bemerkungen, Beobachtungen und Handlungen. Noah flieht deshalb bis in den Sudan und wird dort von Islamisten entführt, die ihn zu enthaupten drohen. Solomon flieht nach Israel und nimmt sich eine Wohnung in Tel Aviv, was er schon sein ganzes Leben lang tun wollte, und denkt, seine israelische Ex-Freundin, die ihn immer unterdrückt hat, wird ihn retten. Das Ausland als Chiffre für ein anderes, das bessere Leben.

Hat die Handlung etwas mit Ihrer Biografie zu tun?
Es ist – im Roman vielleicht etwas überspitzt dargestellt – die Geschichte von Juden in Deutschland nach dem Holocaust insgesamt. Solomon und Noah versuchen, die Fesseln ihrer Familiengeschichte abzustreifen, und fast noch mehr als das ständige jüdische Echo-Leiden an der Schoa nervt sie die übertriebene, erstickende jüdische Familienliebe und tyrannische Fürsorge von Papa und Mama. Schade, dass in Wirklichkeit so wenige junge Juden heute in Deutschland wie Noah und Solomon sind.

Wie meinen Sie das?
Wissen Sie, warum ich Ihrer Zeitung so gern ein Interview gebe? Weil ich hier – und nur hier – wirkungsvoll die Frage stellen kann: Wo sind die anderen jüdischen Leute in Deutschland, die wie ich versuchen, den nächsten großen Roman zu schreiben? Müssen die alle wirklich Ärzte, Anwälte oder Springer-Journalisten sein? Kann da nicht einer dabei sein, der eine geniale Sinfonie komponiert, ein verrückt teures Bild malt oder ein Buch schreibt, über das sich Juden und Nichtjuden gleichzeitig aufregen? Müssen die Kinder und Enkel der seit 1945 in Deutschland lebenden Juden wirklich alle so bürgerlich, langweilig und scheinheilig sein? Müssen die wirklich jeden Freitagabend bei ihren Eltern sitzen und so tun, als hätten sie noch nie in ihrem Leben einen Joint geraucht?

Sie übertreiben. Wenn Sie wüssten!
Keine Übertreibung. Die vielen braven angepassten jüdischen Kinder machen mich noch rasender als die deutschen Literaturkritiker. Und was mich richtig aufregt: der alles beherrschende Materialismus in der jüdischen Gemeinschaft. Das ist doch nur Ersatz für vermeintliches Glück! Geld, Immobilien und Prada-Handtaschen heilen keine Wunden, wer das denkt, ist total naiv. Und gleichzeitig hat so jemand panische Angst, alles zu verlieren, und wird dadurch erst recht zum Anpasser. Aber ich habe noch Hoffnung: Vielleicht passiert ja etwas in Deutschland, das Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts passiert ist, als Leute wie Samuel Fischer, Herwarth Walden und Franz Kafka einen anderen Lebensentwurf wählten als ihre Eltern. Dazu braucht es Mut. Dazu braucht es Mut, viel weniger Mut, als einen Sumpf in Palästina trockenzulegen. So schwer ist es nicht zu sagen: Sorry, Mama und Papa, aber ich möchte einen anderen Lebensweg gehen als ihr!

Die Protagonisten Ihres Buches sind wie Sie im Deutschland der frühen 70er-Jahre aufgewachsen. Welche Erinnerung haben Sie an diese Zeit?
Meine Eltern sind 1970 mit mir aus Prag nach Deutschland gekommen. Am Anfang hatten sie sehr wenig Geld, dennoch schafften sie es, eine normale, schöne Altbauwohnung im Hamburger Grindelviertel zu mieten. Damals wollten alle Deutschen auf dem Land und nicht in der Stadt wohnen. Es dauerte eine Weile, bis wir von einer Nachbarin erfuhren, dass das mal ein jüdisches Viertel war. Das wusste damals kein Mensch. Was ich damit sagen will: Nicht nur Juden waren zu der Zeit ausgelöscht in Deutschland, sondern auch ihre Geschichte.

Haben Sie Antisemitismus erlebt?
Die meisten der zu dieser Zeit hier lebenden 30.000 Juden bewegten sich in einer Parallelwelt. Juden waren nicht als Menschen, sondern nur als Namen auf Gedenktafeln präsent. Mit 15, 16 Jahren merkte ich plötzlich, dass die gute alte Judenphobie aber immer noch da war. Meine deutschen Schulfreunde protestierten nicht nur gegen Kernkraftwerke und verehrten die RAF so wie David Bowie oder Deep Purple, sondern redeten über Israel auf eine Art, wie früher die Nazis über Juden gesprochen hatten. Noch witziger war, dass deutsche Freunde meiner Eltern – kaum hatten sie auf einer Party ein bisschen getrunken – sofort total gerührt über ihre Zeit bei der Wehrmacht erzählten. Für die nüchterne deutsche Gesellschaft waren die Juden aber kein Thema, außer eben als Bewohner eines Museums.

Hat das Jüdischsein eine Rolle gespielt, als Sie Freundinnen hatten?
Für mich selbst? Niemals, und das tut es bis heute nicht. Tut mir leid!

Das sollen wir glauben? Sie schreiben ausschließlich über Juden, Ihr ganzes Werk handelt von nichts anderem – und Sie hassen die Deutschen.
Sehen Sie, Sie haben meinen Roman doch nicht richtig gelesen, und jetzt wiederholen Sie, was ich mir sonst von den Gojim anhören muss. Erstens: Eine der Hauptfiguren ist Claus Müller, genannt Clausi-Mausi, der Enkel eines deutschen Widerstandskämpfers. Zweitens: Ich hasse nicht die Deutschen, ich hasse nur schlechte Taxifahrer und Kellner. Und drittens: lieber eine Nichtjüdin mit Herz als eine Jüdin mit Haaren auf den Zähnen.

Herr Biller, als Sie die Arbeit am Roman beendet hatten, schrieben Sie auf Facebook: »Und was mache ich jetzt?« Haben Sie inzwischen eine Antwort darauf gefunden?
Es geht nie darum, was man macht, wenn ein Buch fertig ist, sondern nur darum, womit man danach weiter Geld verdient. Beim Schreiben von Biografie dachte ich: Danach will ich nicht mehr schreiben, ich habe alles gesagt, was ich sagen wollte. Und was habe ich danach gemacht? Ich habe die Novelle Im Kopf von Bruno Schulz geschrieben. Nein, es hört nie auf. Wobei: Philip Roth hat vor drei Jahren erklärt, dass Nemesis sein letzter Roman ist, dass da nichts mehr kommt. Er sei ausgeschrieben. Philip Roth war offenbar schlau genug zu wissen, dass es irgendwann vorbei ist. Ob ich es sein werde? Ich fürchte, nein.

Mit dem Schriftsteller sprach Philipp Peyman Engel.

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