Der Verrat der Intellektuellen: Das ist das Leitmotiv in Anne Applebaums vor Kurzem auf Deutsch erschienenem Buch Die Verlockung des Autoritären. Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist. Mehrmals beruft sich die amerikanische Journalistin und Historikerin darin auf den Franzosen Julien Benda und dessen Buch Der Verrat der Intellektuellen von 1927.
In diesem Pamphlet wirft Benda den Intellektuellen seiner Zeit vor, dass sie sich in die Arena des von Leidenschaften bestimmten politischen Kampfes begeben hätten; ihre eigentliche Aufgabe sei aber die unparteiische Suche nach Wahrheit unter Einsatz ihrer Vernunft.
Schreiber »Clercs« nennt Benda die Intellektuellen im Französischen, das bedeutet sowohl »Schreiber« als auch »Geistliche«, und es ist für Benda eine – anders als Applebaum behauptet – ganz unironische Bezeichnung: Denn die »clercs« sind ihm schreibende Wahrheitsdiener, die sich an einem Reich orientieren sollen, das nicht von dieser Welt ist, also gerade keinen politischen Interessen unterliegt. Es ist dieses Buch von Benda, das immer wieder gelesen – oder zumindest zitiert – werden wird, »solange es Intellektuelle gibt, die des Verrats fähig sind«, wie der amerikanische Philosoph Michael Walzer schrieb.
Bendas andere Bücher und er selbst sind quasi vergessen, in Frankreich, aber selbstverständlich erst recht in Deutschland. Das ist bedauerlich, denn Benda war über Jahrzehnte seines langen Lebens (1867–1956) einer der bedeutendsten Publizisten Frankreichs.
STREITLUST Aufgewachsen als Sohn großbürgerlicher jüdischer Eltern in Paris, neigte er zunächst einer mathematischen Ausbildung zu, studierte dann aber Geschichte an der Sorbonne und begann seine publizistische Tätigkeit, indem er sich 1898 für den aus antisemitischen Motiven wegen Landesverrats verurteilten Offizier Alfred Dreyfus einsetzte.
Benda begann seine publizistische Tätigkeit mit einer Verteidigung von Alfred Dreyfus.
Lange veröffentlichte Benda in den »Cahiers de la Quinzaine«, die von Charles Péguy geleitet wurden – mit dem er sich anfreundete und den er noch Jahrzehnte nach dessen Tod scharf kritisierte –, schrieb dann für den »Figaro« und in den 1920er- und 30er-Jahren überwiegend für die Zeitschrift »Nouvelle Revue Française« (NRF), die wohl bedeutendste Zeitschrift Frankreichs dieser Jahre, in der auch Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit erschien. Er verfasste neben vielen journalistischen Artikeln politische Essays, philosophische Pamphlete, literaturkritische Diatriben, er war Herausgeber, Romanschriftsteller und Autobiograf. Er schrieb viel, manche sagten: zu viel, was freilich ein wohlfeiler Vorwurf ist gegen jemanden, der damit sein Geld verdient.
Benda war von einer Streitlust, die keine Gegner ausließ. Er polemisierte gegen Marcel Proust, André Gide und Paul Valéry – alle auch Beiträger der NRF – als Vertreter einer »littérature pure«, die sich einer dunklen Sprache bediene, das Wort über die Wirklichkeit stelle und das Gefühl der Analyse vorziehe, attackierte Henri Bergson, seine bête noire, in dessen Philosophie er eine Bevorzugung des Lebens gegenüber dem Geist erkannte, und verurteilte den Existenzialismus Sartres. Mit Philosophie und Literatur der Moderne konnte Benda wenig anfangen. Die Abneigung gegen diese Moderne gründete in seinen vom Rationalismus und Universalismus der Aufklärung geprägten Überzeugungen. Benda war ein Modernekritiker von links.
FASCHISMUS Als Demokrat plädierte er in den 30er-Jahren für ein Bündnis mit den Kommunisten, da es ihm nur so möglich schien, den französischen Faschismus zu besiegen. Vichy sah er früher kommen als die meisten seiner Landsleute. Er warnte vor einem falschen Liberalismus, der selbst den Demokratiefeinden Freiheit zugestehen wolle, forderte einen demokratischen »militanten Humanismus« – ganz wie Thomas Mann in seinen politischen Reden und Essays derselben Zeit – im Gegensatz zum Pazifismus, stritt für ein Interventionsgebot im Fall von Menschenrechtsverletzungen und sah die Lösung für die Konflikte Europas in einer europäischen Nation.
Er polemisierte gegen die Verehrung des Besonderen, Partikularen oder, wie man heute sagen würde: Diversen in Kunst und Politik. Benda, der in Gegensätzen dachte, die nicht in der Synthese aufgehoben werden konnten, sondern einander ausschlossen, beharrte darauf, dass man zu einer friedlichen Koexistenz nur gelangen könne, indem man auf das Allgemeine, das Verbindende, die Zugehörigkeit zu einer Menschheit abstellte. Ausdruck dieser Beschwörung des Verbindenden war sein Kampf gegen Nationalismus.
Benda forderte, den Nationalismus lächerlich zu machen, der ihm ein »Werk des Wahnsinns des 19. Jahrhunderts« war und in dem er auch nicht das Bestreben eines Kollektivs sah, kein Zeichen eines gesunden Gemeinschaftsgefühls, sondern nur einen vergrößerten Egoismus.
Da Benda an den Vorrang des Geistes gegenüber dem Leben glaubte, glaubte er auch an die Überlegenheit der Ideen über die Ökonomie: Das Deutsche Reich etwa sei nicht durch den Zollverein, sondern durch Fichtes Reden an die deutsche Nation geschaffen worden – wobei Benda weder Fichte noch der deutschen Nation besondere Zuneigung entgegenbrachte –, schrieb er in seiner »Rede an die Europäische Nation«, einem energischen Plädoyer für eine europäische »Supernation«, formuliert im Jahr 1933.
UNTERHALTUNG Sein Antinationalismus konnte wundersame Blüten treiben: Gegenüber Künstlern, Dichtern zumal, zeigte er ein an Platon gemahnendes Misstrauen. Er zieh sie der Abneigung gegenüber der Abstraktion und der Vorliebe für das Besondere; wer aber das Besondere hervorhebe, der betone das Unterscheidende, also auch das Nationale. Künstler seien einer europäischen Vereinigung »grundsätzlich feindlich« gesinnt, weil in ihr das Unterscheidende aufgehoben werde. Dieser Vorwurf mag uns heute einigermaßen absurd erscheinen, da antieuropäische Schriftsteller eher die Ausnahme darstellen dürften; aber Benda war geprägt von der Erinnerung an Künstler und Intellektuelle, die den Ersten Weltkrieg begeistert begrüßt hatten.
Aus einem weiteren Grund betrachtete Benda Künstler mit grollender Skepsis: Sie wollten unterhalten und Gefühle hervorrufen. Das kann man sicher als eine ungerechte Kritik betrachten, aber bei Benda fließen Kunst- und Politikkritik zusammen: Die Demokratie war ihm ein abstraktes Regelwerk, in dem Gefühle und Unterhaltung fehl am Platz waren. Die »libido sentiendi«, die Gefühlslust, und die Ästhetisierung von Politik betrachtete er als eine der größten Bedrohungen für die Demokratie. Das hat nichts von seiner Aktualität verloren.
Von Bendas Büchern wurde bisher lediglich Der Verrat der Intellektuellen ins Deutsche übertragen, es ist momentan nur antiquarisch greifbar. Es ist zu wünschen, dass sich das ändert.
Sein Universalismus ging so weit, dass er sogar Kunst verachtete, weil sie das Besondere betont.
Benda war in seinen Positionen keinesfalls konsequent. Dass er sich, wie im Verrat der Intellektuellen gefordert, leidenschaftslos nur den ewigen Wahrheiten widmete, kann man kaum behaupten. Er habe »eine Leidenschaft für die Vernunft« heißt es wie zur Rechtfertigung für seine unzähligen Polemiken in seiner Autobiografie, einem seiner besten Bücher.
Bei der Lektüre Bendas begegnet man einem ständigen Insistieren auf die Vernunft sowie Widersprüchen, Übertreibungen, Ungerechtigkeiten und Fehleinschätzungen. Aber man trifft auch immer wieder auf originelle (ein Wort, das Benda hasste) Positionen, Ideen, die ihren Wert behalten haben, und auf Einsichten, die nur im ehrlichen intellektuellen Ringen um die Sache zu gewinnen sind.