Moses liegt als Puppe im Korb, zwei Kinderhände erzeugen die Wellen. Während Liliana Nunes die Pessachgeschichte erzählt, hören 20 Kinder fasziniert zu. Die 25-Jährige ist Erzieherin im jüdischen Kindergarten Stuttgart. 70 Kinder zwischen null und sechs Jahren besuchen die Krippe und den Kindergarten, aufgeteilt auf fünf Gruppen mit jeweils zehn oder 20 Kindern.
Der Tag beginnt mit einem koscheren Frühstück. Es gibt Pfannkuchen. Vor und nach dem Essen wird gebetet. Im Anschluss findet der Morgenkreis statt. Die Kinder lernen die Jahreszeiten, die Wochen- und die Feiertage. Manchmal wird ein Märchen erzählt.
gemeinschaft Liliana Nunes erzählt die Hintergründe jüdischer Feiertage, bevor alle zusammen feiern. »Religion soll Spaß machen. Wir vermitteln alles mit viel Freude, mit Singen und Tanzen«, sagt die Erzieherin. Nach dem Abitur hatte Nunes ein Freiwilliges Soziales Jahr im jüdischen Kindergarten gemacht. Auf Anhieb fühlte sie sich dort wohl, so ist sie bei der Arbeit mit Kindern geblieben.
Seit der Geburt ist das Judentum Teil ihres Lebens. Feiertage wurden in der Familie immer gefeiert. Die Teilnahme an jüdischen Ferienlagern ist der jungen Frau besonders in Erinnerung geblieben. »Gute Laune und Gemeinschaftsgefühl – das hat mich sehr geprägt.«
Liliana Nunes ist in Pforzheim aufgewachsen und war dort Gemeindemitglied. »Im Vergleich zu Pforzheim ist das Gemeindeleben in Stuttgart durch den jüdischen Kindergarten, die Grundschule und das Gemeindezentrum viel lebendiger«, erzählt sie. Wissen weiterzugeben, macht ihr Freude, sagt sie. Das scheinen auch die Kinder zu spüren. »Selbst ein halbes Jahr später – wenn schon Rosch Haschana vor der Tür steht – wollen manche Kinder die Pessachgeschichte noch einmal hören«, sagt sie.
Jugendzentrum In den Augen anderer anders zu sein – der 22-jährige David Kapoul hat früh erlebt, wie das ist. Als Schüler wurde er gemobbt, weil er Jude ist. Und dennoch betont der Gesundheitsmanagement-Student: »Ich habe meine jüdische Identität nie versteckt.« Seit seiner Kindheit nimmt Kapoul regelmäßig an Veranstaltungen der Kölner Gemeinde teil. Der Schabbatgottesdienst am Samstagvormittag mit Vater und Großvater ist Tradition – sofern er am Wochenende nicht unterwegs ist. Denn neben seinem Studium legt Kapoul am Wochenende als DJ in Klubs und bei jüdischen Veranstaltungen in ganz Deutschland auf.
Die Musik ist seine Leidenschaft. »Ich komme aus einer musikalischen Familie«, sagt er. »Daher habe ich das Rhythmusgefühl.« Mit zehn Jahren ging er das erste Mal ins Kölner Jugendzentrum. Nun engagiert er sich dort selbst als Ehrenamtlicher. Besonders gerne erinnert er sich an sein erstes Machane. »Dort habe ich einige meiner besten Freunde kennengelernt«, erzählt er. Jüdische Religion, Identität und Herkunft verbinden. »Ich möchte mein Wissen und den Spaß am Judentum weitergeben.« Kinder und Jugendliche zwischen sechs und 17 Jahren besuchen das Jugendzentrum in Köln. »Es ist auch Zufluchtsort, um aus Alltagsproblemen herauszukommen«, meint er.
Ein Highlight sei die Jewrovision: Angelehnt an den Eurovison Song Contest präsentieren Jugendzentren aus ganz Deutschland Lieder mit eigenem Text und einer Tanzperformance. »In Dresden sind wir in diesem Jahr mit einem kölschen Lied angetreten«, erzählt Kapoul. Als Teilnehmer hat er selbst zweimal gewonnen.
Auf die Antisemitismusdebatte angesprochen, sagt er: »Ich habe als Jude keine Angst in Deutschland.« Von Mobbingfällen hört er dennoch immer wieder. Kindern und Jugendlichen, die aufgrund ihrer jüdischen Identität gemobbt werden, rät er: »Reden. Sprecht mit Lehrern, Eltern, Freunden oder einer Bezugsperson aus dem Jugendzentrum.«
parallelen Gegen Vorurteile engagiert sich auch Margarita Haikin. Im Klassenzimmer einer Essener Gesamtschule schauen Neuntklässler der 26-Jährigen dabei zu, wie sie eine Chanukkia auspackt und dabei die Bedeutung des Chanukkafestes erklärt.
Seit zwei Jahren engagiert die 26-Jährige sich bei der Initiative »Rent a Jew«. 2015 wurde dieses Projekt des Jüdischen Medienforums gestartet. Ziel ist es, Begegnungen von Juden und Nichtjuden auf Augenhöhe zu organisieren – Ehrenamtliche wie Margarita gehen als Referenten in Bildungseinrichtungen und Vereine. »Wir erzählen unsere Geschichte«, beschreibt die Referentin den Ablauf. Direkter Kontakt sei der beste Weg, um Vorurteile abzubauen, davon ist sie überzeugt. Holocaust-Erinnerungskultur ist wichtig, findet sie. Daneben gebe es ein lebendiges Judentum in Deutschland.
Infolge der Antisemitismusdebatte nach dem Angriff auf einen Kippaträger in Berlin und der Echo-Verleihung habe es viele »Rent a Jew«-Anfragen gegeben, berichtet Haikin. »Wir können in Klassen gehen und unsere Botschaft vermitteln. Das ist super.« Als Schimpfwort gebrauchte Bezeichnungen wie »Du Jude« auf dem Schulhof hält sie nicht automatisch für Antisemitismus. »Das ist oft ein Mangel an Wissen«, meint sie. Ähnlich sieht Haikin die Entscheidung beim Echo. »Das ist eine Welle: Wenn alle die Musik toll finden, wird das nicht hinterfragt. Aber genau das wollen wir erreichen: Kinder und Jugendliche zu sensibilisieren.«
Ein Erlebnis in einer Essener Gesamtschule zeigt, wie das funktionieren kann. »In der Klasse saß ein muslimischer Junge mit verschränkten Armen und hat uns böse angeschaut. Man sah sofort, dass er keine Lust auf uns hatte«, sagt Haikin. Als er erzählte, wie er seinen religiösen Alltag lebt, habe er immer wieder Parallelen festgestellt. »›Ach, das machen wir im Islam auch so‹, sagte er immer wieder.« Im Laufe der Zeit sei der Junge aufgetaut und mit Haikin ins Gespräch gekommen. Für die Krefelder Personalreferentin sind Momente wie dieser ein Erfolg.
chuppa Haikin identifiziert sich kulturell mit dem Judentum. »Ich bin Feiertagsjüdin«, sagt sie. Traditionen sind ihr wichtig – ihre Hochzeit im vergangenen Jahr fand traditionell mit Chuppa statt. Die 26-Jährige ist in Kiew geboren, aber in Krefeld aufgewachsen. Mit ihrer jüdischen Identität geht sie immer schon offen um. »Im Bestfall verbindet jemand durch mich etwas Positives mit dem Judentum«, sagt sie. Steige ihr Gegenüber direkt mit Israel ein, sei das für sie eine Möglichkeit zur Differenzierung zwischen Judentum und Israelkritik.
»Ich bin deutsche Jüdin. Auf die israelische Politik habe ich keinen Einfluss«, erwidere sie dann. Für den Dialog zwischen Juden und Nichtjuden wünscht sie sich Vorurteilsfreiheit und Offenheit. »Interreligiöse Veranstaltungen sind super. Dort habe ich viel über andere Religionen und Kulturen gelernt.«
Kultur ist Alexander Stolers Stichwort. Der 27-Jährige sitzt im Büro der Jüdischen Gemeinde Darmstadt und ist dort seit einem halben Jahr als Referent für Kulturveranstaltungen und Öffentlich-keitsarbeit zuständig. »Mir bedeutet das Judentum viel. Traditionen wie das Einhalten von bestimmten Ritualen und das Feiern von Festen werden seit Jahrhunderten in meiner Familie gepflegt. Das steckt in meiner DNA.«
film Durch die Arbeit an einem Dokumentarfilm über drei jüdische Migranten in Deutschland mit dem Titel Dritte Generation – Auf den Spuren unserer Vorfahren hat er sich intensiv mit seiner Identität befasst. Gemeinsam mit zwei anderen Studenten hat er für das Projekt drei jüdische Senioren aus Frankfurt porträtiert.
Stolers Wurzeln liegen in Czernowitz. Dort entstanden ebenfalls Aufnahmen. »Der Film ist das Wichtigste, was ich in den letzten Jahren geschaffen habe«, sagt er. Dadurch ist er zu seiner jetzigen beruflichen Tätigkeit gelangt: Derzeit bereitet Stoler die Jüdischen Kulturwochen Darmstadt vor.
In und außerhalb der Gemeinde wird es in Kooperation mit dem Darmstädter Kulturamt von August bis November insgesamt 13 Veranstaltungen geben, darunter eine Ausstellung über das heutige Judentum und über jüdische Fußballer des FC Bayern München vor dem Zweiten Weltkrieg. Stoler selbst war acht Jahre lang Fußballspieler bei Makkabi Frankfurt. Deshalb begeistert ihn das Thema besonders.
Immer wieder klingelt Stolers Telefon. In der Gemeinde mit ihren rund 700 Mitgliedern ist einiges los. »Bis zu 250 Besucher kommen bei größeren Veranstaltungen, zwischen 50 und 60 zum Freitagsgebet.«
Chor Die Kulturwochen finden bewusst außerhalb der Gemeinde statt, um auch Nichtjuden zu erreichen. Vielfalt und Offenheit stehen im Vordergrund. »Wir wollen zeigen, dass das Judentum nicht nur in den eigenen vier Wänden steckt.«
Doch auch in den Räumen der Synagoge können Interessierte mehr über Religion und jüdisches Leben erfahren. Fast alle Synagogen-Führungen für 2018 sind ausgebucht. Vor allem Schulklassen und Studiengruppen schauen sich die Gemeinde an. Die Darmstädter Gemeinde hat einen Chor und eine Tanzgruppe, die sogar deutschlandweit auftreten.
»Viele Besucher der Kulturveranstaltungen kommen wieder – das fördert das Gemeindeleben stark«, sagt Stoler. Eines liegt ihm besonders am Herzen: mehr junge Menschen in die Synagoge zu bringen. Daran arbeite man gerade.
Nunes, Kapoul, Haikin und Stoler –Stuttgart, Köln, Münster, Darmstadt: Vier Menschen und vier Städte zeigen, wie vielfältig jüdisches Leben in Deutschland heute ist.