Kulturelle Aneignung de luxe würde heute wohl etwas reflexartig der Vorwurf lauten. Da hatten sich in den 50er-Jahren der Komponist Leonard Bernstein, der Ende November verstorbene Texter Stephen Sondheim sowie der Drehbuchautor Arthur Laurents zusammengetan, um einen Klassiker der Musical-Geschichte zu schaffen, und zwar die West Side Story.
Drei weiße jüdische Männer, die zudem alle homo- oder zumindest bisexuell waren, nahmen sich also der von William Shakespeare verfassten Liebesgeschichte zwischen Romeo und Julia an und übertrugen sie in die Slums von New York, wo zwei Jugendgangs, die puerto-ricanischen Sharks und die einheimischen Jets, ihre Revierkämpfe ausfechten. Und in der Verfilmung von West Side Story von 1961, die mit Oscars geradezu überhäuft wurde, verkörpert ausgerechnet die weiße Schauspielerin Natalie Wood die Latina Maria.
kooperation Genau 60 Jahre später präsentiert Steven Spielberg sein in Kooperation mit dem Dramatiker Tony Kushner entstandenes Remake von West Side Story, das an diesem Donnerstag auch in Deutschland in die Kinos kommt. Und ganz offensichtlich wollte sich die Regie-Legende dem Vorwurf der kulturellen Aneignung gar nicht erst aussetzen, weshalb alle Rollen möglichst ethnisch »korrekt« und so divers wie möglich besetzt wurden. Allein Hispanics spielen die Sharks und ausschließlich »Weiße« die Jets, überhaupt wird plötzlich ganz viel Spanisch gesprochen.
Untertitel ließ man bewusst weg – das sollte wohl der Authentizität dienen. Darüber hinaus treten deutlich mehr »People of Colour« in Erscheinung als im Original. Last but not least ist da noch die Figur des Anybodys. In der Version von 1961 ist dies ein etwas burschikoses Mädchen, das in der Neuverfilmung als Transgender-Person gelesen werden kann und von der sich selbst als nicht-binär definierenden Iris Menas gespielt wird.
Ausschließlich Hispanics spielen die »Sharks« und Weiße die »Jets«.
Spätestens hier merkt man: West Side Story 2.0 huldigt in vielerlei Weise einem von Identitätspolitik geprägten Zeitgeist. Das Resultat ist sehr ambivalent. Zum einen erlaubt Spielberg seinen Figuren manchmal deutlich mehr Autonomie und Freiräume, sich zu entwickeln, als die Macher des Films von 1961. Gleichzeitig aber werden sie in einen Setzkasten gepresst, der sich vor allem an den Kategorien Hautfarbe oder Geschlechteridentifikation orientiert.
Und noch etwas rückt dadurch in den Vordergrund. Die Liebesgeschichte zwischen Tony und Maria, gespielt von Ansel Elgort und der Neuentdeckung Rachel Zegler, trägt deutlich gesellschaftskritischere Züge. Das zeigt sich bereits in den ersten Szenen, die eher Reminiszenzen an ein Kriegsgebiet wecken als an New York.
GENTRIFIZIERUNG Alte Häuserblocks werden abgerissen, die Gentrifizierung ganzer Bezirke schreitet voran, was dazu führt, dass die sozial Schwächeren im wahrsten Sinne des Wortes das Schlachtfeld räumen müssen. Und sowohl die Sharks als auch die Jets gehören zu den Verlierern dieser Entwicklung, was die Mitglieder beider Gangs aber nicht wahrhaben wollen, weshalb sie sich lieber weiter selbst zerfleischen.
Mit dem bekannten tödlichen Finale natürlich. Doch bis die Leichen der Protagonisten endlich weggeräumt werden, wird erst einmal ordentlich getanzt und gesungen.
Die gesamte Choreografie, von Justin Peck auf die Beine gestellt, ist neu. In Kombination mit den bekannten, an manchen Stellen jedoch leicht veränderten Songs, den knalligen Kostümen und der spektakulären Kameraführung eines Janusz Kaminski rollt sie wie ein Güterzug über die Leinwand, so bombastisch und eindrucksvoll. Allein deswegen lohnt es sich, den Film zu sehen. Leider können einige der Schauspieler, die wirklich begnadet zu tanzen verstehen, beim Singen nicht mithalten.
Wieder einmal funktionieren Spielbergs Verführungskünste.
Vor allem Ansel Elgorts Stimme wirkt etwas dünn, fast schon möchte man Stimmchen sagen. In Spielbergs Neuauflage soll er zudem einen ehemaligen Gewaltverbrecher verkörpern, der den Geläuterten gibt, sich aber der Schwerkraft der Gang entgegen besseren Wissens nicht zu entziehen vermag – mit fatalen Folgen. Das alles funktioniert allein deshalb nicht, weil Ansel Elgort allenfalls über das Charisma eines Kinderschokolade-Jungen verfügt.
FORMALISMUS Was aber sehr wohl funktioniert, sind wieder einmal die Verführungskünste Spielbergs. Trotz der Tatsache, dass die gesellschaftskritischen Ansätze nie konsequent zu Ende formuliert werden und alles zum identitätspolitischen Spektakel mutiert, werden die Zuschauer unweigerlich von einem verträumten Formalismus in der Bildsprache in den Bann gezogen.
Manche mögen das als Kitsch abtun, für andere ist es das große Kino. Allein deshalb kann die Frage, ob Remakes von Klassikern wie West Side Story wirklich nötig sind, mit einem Satz beantwortet werden: Wenn Steven Spielberg sich der Sache annimmt, dann auf jeden Fall!
Spielbergs Musicalfilm »West Side Story« (157 Minuten) ist ab dem 9. Dezember im Kino zu sehen.