Das digitale Medium ist für die alten Quellen perfekt. Vielleicht überrascht dieser Befund etwas. Denn Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf haben ein Projekt aufgelegt, das auf den ersten Blick eher nach klassischer Buchveröffentlichung mit sehr vielen Fußnoten aussieht: »Jüdische Sportgeschichte. Eine Quellenedition« heißt es, und die ersten zwei Kapitel sind bereits abrufbar.
»Die Anfänge der jüdischen Sportgeschichte«, so lautet der erste Teil, »Die jüdische Sportgeschichte während des Ersten Weltkriegs« der zweite. Geografisch sind übrigens Ost- und Mitteleuropa der Schwerpunkt. Zu finden ist alles auf copernico.eu, einem Portal, das sich der Geschichte und dem kulturellen Erbe der Region widmet. Betreut wird es vom Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg.
Anke Hilbrenner, Professorin für Geschichte in Düsseldorf und Spezialistin für Osteuropa, betont, dass das Portal sich sehr gut in ihrem Fach nutzen lasse. Als sie mit Kolleginnen und Kollegen die Edition zur Sportgeschichte konzipierte, trat sie auf »copernico« zu. »Die hatten da gerade einen Schwerpunkt zu jüdischem Leben. Das hat sich gut getroffen.« Im Dezember 2023 ging das erste Kapitel mit seinen vielen digitalisierten Quellen online, im Mai 2024 das zweite. »Ursprünglich war das als Buchedition geplant«, sagt Hilbrenner. »Wir hatten schon damit begonnen, aber wir waren an Grenzen gestoßen.« Faksimilierte Originaldokumente oder Fotos abzudrucken, ist bei einem Buch teuer. »Bei der Online-Edition ist es sogar gewünscht.«
Je weiter ihre Arbeit fortschreitet, umso bedeutender wird dieser Aspekt. Aktuell forscht Hilbrenners Team über den jüdischen Sport von 1918 bis 1939. »Gerade für diese Zwischenkriegszeit haben wir oft Bildquellen«, sagt sie.
Zunächst ließen die Nazis noch innerjüdische Wettkämpfe zu.
Auch die Themenvielfalt nimmt zu, je weiter ihre Recherche voranschreitet. Zu dem Bereich des jüdischen Sports, wie er nach dem Ersten Weltkrieg etwa in Polen oder der Tschechoslowakei betrieben wurde, kommt auch ein großer Quellenbestand zum jüdischen Sport in Deutschland zwischen 1933 und 1938. Nachdem Juden im Frühjahr 1933 aus den bürgerlichen deutschen Vereinen ausgeschlossen worden waren und der Arbeitersport komplett verboten wurde, ließ das NS-Regime jüdische Vereine zu, die untereinander Wettkämpfe abhalten durften. Als Grund dafür gilt die Rücksichtnahme auf die Weltmeinung vor den Olympischen Spielen in Berlin. Nach 1936 nahmen die Repressionen zu, 1938 erfolgte das vollständige Verbot.
Jüdischer Arbeitersport
Auch der jüdische Arbeitersport rückt in der aktuellen Arbeit von Hilbrenners Team in den Fokus – gerade in Polen, wo es mit Morgnshtern und Hapoel gleich zwei große Organisationen gab. Das unterscheidet Polen von Deutschland, wo es jüdischen Arbeitersport kaum gab, was soziokulturell auch mit dem weitgehenden Fehlen eines jüdischen Proletariats zu erklären ist.
Hilbrenners Forschungen legen nahe, dass der Arbeitersport in Polen noch größer war als bislang angenommen. »Makkabi und der Zionismus gelten ja oft als bürgerlich, aber in Polen trifft das so nicht zu.« In der dortigen Makkabi-Bewegung fanden sich viele Arbeiter, es wurde überwiegend Jiddisch gesprochen. Auch wenn man sich nicht als sozialistisch definierte, so war es doch Sport von Arbeitern. »Die haben sich schon gegenseitig als ›Bourgeois‹ oder als ›Kommunisten‹ bezeichnet, aber sie gehörten zu einem sehr ähnlichen Milieu.«
Solche Arbeiten zeigen, wie sich der Sport, auch in den jüdischen Verbänden, nach dem Ersten Weltkrieg verändert hat – Arbeiter hatten dank politischer Revolutionen und Achtstundentag nun die Option zum Mitmachen. Anke Hilbrenner hat im Rahmen ihrer historischen Ost- und Mitteleuropaforschung schon häufig den Sport in den Blick genommen. »Ich interessiere mich eher für die sporthistorischen Akteure«, sagt sie. Diese seien Teil der Alltagsgeschichte. Und die ist für die jüdische Geschichte besonders aufschlussreich.
Zum einen, weil es oft eine Idealisierung der Geistesgeschichte gebe, in der Juden besonders privilegiert gewesen seien, wodurch etliche jüdische Bevölkerungsgruppen aus dem Blick gerieten. Zum anderen, weil Sport eine einflussreiche Populärkultur ist. »Hier kann man leicht über Zugehörigkeiten sprechen«, erklärt sie. »Sport hat etwas Inkludierendes, etwa wenn es um eine jüdische Nation geht.«
In Polen existierten einige zionistische Arbeitersportvereine.
Nach der sogenannten Zwischenkriegsphase will sich das Forschungsteam auch der Zeit nach der Schoa zuwenden. Sport in DP-Camps etwa, wo die sogenannten Displaced Persons, die oft aus Lagern befreit waren, zunächst lebten – und Fußball, Boxen und Laufen betrieben wurde. Sehr viele dieser Menschen kamen aus Ost- und Mitteleuropa, und kaum jemand wollte in Deutschland bleiben.
»Wir wollen uns auch den Migrationszielen dieser Menschen widmen«, sagt Hilbrenner, etwa den USA oder Großbritannien. Auch auf jüdischen Sport im Nachkriegsdeutschland wird geschaut. »Der erste Makkabi-Verein in der Bundesrepublik wurde ja in Düsseldorf gegründet«, weiß Hilbrenner. Und Ost- und Mitteleuropa geraten erneut in den Blick. »Da gab es nach 1991 einige Wiedergründungen jüdischer Vereine. Viele der Initiatoren leben noch.«
Vielfalt der Quellen
Um die Vielfalt der Quellen gut darzustellen, hat sich die Form des digitalen Portals schon jetzt bewährt. Hilbrenner verweist nicht nur auf eine interessierte akademische Öffentlichkeit, sondern auch auf viele Studierende, nicht nur an ihrer Universität, welche die faksimilierte Form der Quellen sehr schätzen. Im Portal können sie etwa das Originaldokument anschauen, eine transkribierte Fassung lesen und gleich auf die erläuternden Fußnoten klicken.
»Auch Querverweise sind leichter möglich als bei einem gedruckten Buch«, so Hilbrenner. Etwa, wenn Personen mehrfach auftauchen oder wenn bestimmte Themen wie Antisemitismus oder Zionismus in verschiedenen Zusammenhängen erwähnt werden. Und doch funktioniere auch jede Quelle für sich, resümiert Hilbrenner.
www.copernico.eu/de/quellenedition-juedische-sportgeschichte