Kolumne

Mit Skibrille zur Vernissage

Foto: Chris Hartung via AI

Eine mittelgroße Stadt in Deutschland. Im Pressebüro des örtlichen Kunstmuseums herrscht Alarmstimmung. Wie konnte das bloß passieren? Erst vor wenigen Tagen wurde dort die erste große Ausstellung eines vielversprechenden jungen Künstlers eröffnet.

Kulturbürger aus dem gesamten Umland kamen zur Vernissage. Sogar der Bürgermeister war kurz da und ließ sich zusammen mit dem Künstler – blondierter Vokuhila-Haarschnitt und markante Skibrille – ablichten. Die Lokalzeitung hat mit einigem Erstaunen über die rätselhaften mehrsprachigen Textbandinstallationen des frisch gebackenen Berliner Kunsthochschulabsolventen berichtet.

Und jetzt das: Einer jungen Ausstellungsbesucherin ist zufällig aufgefallen, dass der griechischsprachige Teil der Ins­tallation in Dauerschleife die Sentenz »Palestine will be free from the river to the sea« zeigt. Sie filmt die Installation mit ihrem Smartphone ab, lädt sie hoch, setzt mehrere Hashtags und markiert neben dem Museum und dem Künstler auch einige Freunde aus der antideutschen Szene.

Der griechischsprachige Teil der Ins­tallation zeigt in Dauerschleife die Sentenz »Palestine will be free from the river to the sea«.

Wenige Stunden später ist der Skandal perfekt: Das zunächst unbemerkt gebliebene israelfeindliche Kunstwerk geht viral und landet auf »Focus Online«. Dort fordert der Antisemitismusbeauftragte der Landesregierung die sofortige Schließung der Ausstellung, der alarmierte Bürgermeister verlangt von der Museumsdirektorin am Telefon eine Erklärung. Derweil verwahrt sich der Künstler gegen jede Zensur und erfährt breite Solidarität auf Instagram.

Dieser Fall ist frei erfunden. Und doch könnte er sich jederzeit in einem der zahlreichen Museen, Kunsthallen und Kunstvereine dieser Republik ereignen. Sie sind zu einem Krisengebiet avanciert, seit immer mehr Künstler sich politischem Aktivismus hingegeben und ästhetische Unschärfe zugunsten eindeutiger Positionierungen und Parolen eingetauscht haben.

Spätestens seit der spektakulären Havarie der »documenta fifteen« in Kassel hat sich herumgesprochen, dass eine professionelle institutionelle Krisenkommunikation unverzichtbar ist, um weltanschauliche Amokfahrten von Kuratoren und Künstlern einzufangen.

Auf ausufernde Skandale und Shitstorms angemessen reagieren zu können, ist zu einer Schlüsselqualifikation in der Kunstwelt geworden.

Auf ausufernde Skandale und Shitstorms angemessen reagieren zu können, ist zu einer Schlüsselqualifikation in der Kunstwelt geworden. So wird etwa von der derzeit ausgeschriebenen Presseleitung der Großausstellung Skulptur Projekte 2027 im nordrhein-westfälischen Münster vor allem »nachweisbare Erfahrung in der Entwicklung und Umsetzung von Krisenkommunikationsstrategien sowie im Umgang mit Medien in kritischen Situationen« erwartet.

Mit der »Kulturbotschaft« hat sich außerdem eine neue Berliner Beratungsagentur auf das sichere Navigieren durch die Diskurskrise spezialisiert. Die beiden Gründer haben kürzlich einen Leitfaden der »Krisenkommunikation für den Kulturbetrieb« publiziert.

Der Bedarf wächst jedenfalls: Je mehr sich die progressive Kulturszene radikalisiert, desto höher wird die Verunsicherung in den Institutionen, die zwischen Künstlern, Publikum, Medien und öffentlichen Geldgebern vermitteln müssen. Und darin unterscheidet sich das örtliche Kunstmuseum einer mittelgroßen Stadt kaum von einer documenta – wenn man von den Frisuren einmal absieht.

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 20. Februar bis zum 27. Februar

 21.02.2025

Berlinale

»Das verdient kein öffentliches Geld«

Der Berliner CDU-Fraktionschef Dirk Stettner hat seine Karte für die Abschlussgala zerrissen – und will die Förderung für das Filmfestival streichen

von Ayala Goldmann  21.02.2025

Bayern

NS-Raubkunst: Zentralrat fordert schnelle Aufklärung

Der Zentralrat der Juden verlangt von den Verantwortlichen im Freistaat, die in der »Süddeutschen Zeitung« erhobenen Vorwürfe schnell zu klären

 20.02.2025

Kolumne

Unentschlossen vor der Wahl? Sie sind in guter Gesellschaft – mit Maimonides

Der jüdische Weise befasste sich mit der Frage: Sollten wir als Kopfmenschen mit all unserem Wissen auch bei Lebensentscheidendem dem Instinkt vertrauen?

von Maria Ossowski  20.02.2025

Berlin

Eine krasse Show hinlegen

Noah Levi trat beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest an. In die nächste Runde kam er nicht, seinen Weg geht er trotzdem

von Helmut Kuhn  20.02.2025

NS-Unrecht

Jüdische Erben: »Bayern hat uns betrogen« - Claims Conference spricht von »Vertrauensbruch«

Laut »Süddeutscher Zeitung« ist der Freistaat im Besitz von 200 eindeutig als NS-Raubkunst identifizierten Kunstwerken, hat dies der Öffentlichkeit aber jahrelang verheimlicht

von Michael Thaidigsmann  20.02.2025

Literatur

»Die Mazze-Packung kreiste wie ein Joint«

Jakob Heins neuer Roman handelt von einer berauschenden Idee in der DDR. Ein Gespräch über Cannabis, schreibende Ärzte und jüdischen Schinken

von Katrin Richter  20.02.2025

Berlinale

Auseinandergerissen

Sternstunde des Kinos: Eine Doku widmet sich David Cunio, der am 7. Oktober 2023 nach Gaza entführt wurde, und seinem Zwillingsbruder Eitan, der in Israel auf ihn wartet

von Ayala Goldmann, Katrin Richter  19.02.2025

Berlin

»Sind enttäuscht« - Berlinale äußert sich zu Antisemitismus-Skandal

»Beiträge, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, überschreiten in Deutschland und auf der Berlinale eine rote Linie«, heißt es in einer Erklärung des Festivals

von Imanuel Marcus  19.02.2025