Literatur

Mit Humor gegen das Grauen

Edgar Hilsenrath 2003 in seiner Wohnung in Berlin Foto: imago stock&people

Ich bin verliebt in die deutsche Sprache», antwortet Zibulsky auf die Frage, wer denn seine Geliebte sei. Und Zibulsky, Protagonist in Edgar Hilsenraths Satirensammlung Zibulsky oder Antenne im Bauch, ist ohne Zweifel der Autor selbst, der uns immer wieder erzählt hat, was die Sprache Döblins und Kafkas für ihn bedeutet, ihn, den Holocaust-Überlebenden, dessen literarisches Werk im deutschsprachigen Raum keinerlei Entsprechung hat.

Sicher, Imre Kertész mit dem Roman eines Schicksallosen oder Paul Celan mit seiner Todesfuge sind uns so vertraut wie Steven Spielbergs Schindlers Liste oder Roman Polanskis Der Pianist. Aber Edgar Hilsenrath hat die erbarmungsloseste, kompromissloseste Schoa-Literatur geschaffen, die die deutsche Literatur kennt.

UNGEHEUERLICH Ein Roman wie Nacht, den Hilsenrath 1950 in Frankreich zu schreiben begann und in New York abschloss, konnte erst 1964 in einer Auflage von 1250 Exemplaren in Deutschland erscheinen. Der gebürtige Leipziger Hilsenrath musste damals bei 60 Häusern vorstellig werden, ehe er einen Verlag fand.

Nicht, weil das Buch schlecht gewesen wäre, sondern, weil sein Autor Ungeheuerliches erzählt – und zwar nicht von den Tätern, sondern von den Opfern. In seinem Werk sind sie nicht edel, keine klassischen «Vorzeigejuden», wie jüdische Figuren in der deutschsprachigen Literatur zu der Zeit oft gezeichnet waren. Im Elend des Ghettos verrohen sie, werden zu reißenden Naturen.

Hilsenrath hat das kompromissloseste Werk geschaffen, das die deutsche Literatur kennt.

Das alles erzählte Hilsenrath ohne jede Rücksichtnahme, auch ohne jedes Pathos. «Die Schoa aus der Sicht eines Täters zu erzählen, war sehr kontrovers», erinnerte sich Hilsenrath in einem Interview vor mehreren Jahren. «Die Deutschen wollten keine Groteske über den Holocaust, da hatten sie Gewissensbisse.» Inzwischen gibt es zahlreiche Ausgaben, immer wieder kommt der Roman auch als Stück auf die Bühne.

Hilsenraths Werk ist untrennbar mit seiner Biografie verbunden: Als 15-Jähriger wurde er in ein Ghetto in der heutigen Ukraine verschleppt, von den Russen wurde er befreit, bevor er sich dann selbst wieder von den Russen befreien musste und sich in abenteuerlicher Flucht über Palästina und Frankreich nach Amerika rettete, wo er – dort hielt er sich längere Zeit als Kellner, Bürobote und Nachtportier über Wasser – bis zu seiner Rückkehr 1975 nach Deutschland blieb. «In Amerika war ich auf verlorenem Posten mit der deutschen Sprache», sagte er. Mit Deutschland verband Hilsenrath zwangsläufig ein ambivalentes Verhältnis. Und doch sagte er vor sieben Jahren anlässlich seines 85. Geburtstags in einem Interview: «Ich gehöre zu den wenigen Juden meiner Generation, die ohne Gram und ohne Hassgefühle in Deutschland leben. Das ist wirklich mein Zuhause.»

Von den großen Verlagen in der Bundesrepublik wurde Hilsenrath nur mit spitzen Fingern angefasst. Dafür steht vor allem das Schicksal des Romans Die Nacht, der Lichtjahre entfernt ist von dem, was bislang in der Schoa-Literatur publiziert wurde.

«Kranke sind Ungeziefer», heißt es in dem Buch. «Wenn man sich ihrer rasch entledigte, bestand Hoffnung, dass die Gesunden davonkamen. Man würde das Zimmer dann wieder reinigen, und alles war wieder in Butter.» Oder wenn Hilsenraths Protagonist Ranek lakonisch sagt: «Ich scheiß auf Gott!» Es steht ebendieses trotzige Bekenntnis für den unbedingten Willen, sich in der Trümmer- und Totenstadt Prokow am Ufer des Dnjestr am Leben zu halten.

VERROHUNG Die Verrohung der Menschen war unvermeidlich, und die Umstände waren genauso schrecklich wie in Hilsenraths Roman. Viele Verleger und Kritiker in den 60er- und 70er-Jahren lehnten den Roman wegen seiner erbarmungslos schroffen Schreibweise ab. Ein prominenter Kritiker begann damals seinen Verriss mit den Worten: «So geht das nicht.»

Der prominente Rezensent war Fritz J. Raddatz, der sich Hilsenraths bekanntesten Roman Der Nazi & der Friseur vorgenommen hatte, ein Buch, das 1971 – als Hilsenrath noch in New York lebte – ein grandioser Erfolg wurde. In den USA, Frankreich und Italien wurde es schnell zum Bestseller, weltweit verkauften sich mehrere Millionen Exemplare. Es ist in mehr als zwei Dutzend Ländern erschienen, in China mit einem Vorwort der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller.

«Die Schoa aus der Sicht eines Täters zu erzählen, war sehr kontrovers», erinnerte sich Hilsenrath.

Und in der Tat stellte dieser zweite Roman des Holocaust-Überlebenden Edgar Hilsenrath alles in den Schatten, was man unter dem abschätzigen Begriff «Bewältigungsliteratur» versteht. Es handelt sich – wie Hilsenrath selbst es formulierte – um eine «schwarze Satire über die Nazi-Zeit und den Staat Israel». Ein «halbjüdischer» Friseurlehrling – Max Schulz – wird zum glühenden Parteigänger Hitlers, geht zur SS, beteiligt sich an Massenmorden.

Nach dem Krieg nimmt er die Identität jenes jüdischen Friseurs Itzig Finkelstein an, den er – obwohl mit ihm befreundet – samt seiner Familie im Konzentrationslager ermordet hat. Als eine Art Super-Jude wird er am Ende in Palästina im Untergrundkampf gegen die britische Mandatsmacht zum Volkshelden. Dennoch holt auch ihn die Vergangenheit ein: Die Angst vor der Rache seiner Opfer treibt ihn in den Tod.

Hilsenrath spielte hier mit einem aberwitzigen bizarren Spiegelbild, das bei vielen jüdischen Lesern helle Empörung auslöste. Sie empfanden es als eine ungeheure Provokation, einen deutschen Massenmörder als jüdischen Patrioten hinzustellen, einen Täter, der sich als Opfer gerierte.

Die Provokation hat sich bei Hilsenrath fortgesetzt in Romanen wie Fuck America. Bronskys Geständnis, Die Abenteuer des Ruben Jablonski oder in Jossel Wassermanns Heimkehr, Bücher von unterschiedlicher Qualität. Das gilt besonders für den Roman Gib acht, Genosse Mandelbaum, der in der Werkausgabe den brutalen Titel Moskauer Orgasmus trägt. Hilsenrath hat diesen Thriller 1979 geschrieben. Es ist sicherlich nicht sein bestes Werk, wohl aber eines seiner witzigsten. Es ist ein vulgärer Spaß, eine Travestie, die der Autor seinem Publikum serviert.

ARMENIER Ein weiteres Buch von Edgar Hilsenrath steht in thematischer Nachbarschaft zu Werfels Die vierzig Tage des Musa Dagh. Es beschäftigt sich ebenfalls mit dem 1915 von den Türken verübten Völkermord an den Armeniern und stellt diesen Genozid antizipatorisch als eine Art Vorläufer der Schoa dar. Denn am Ende führt Hilsenrath seinen Protagonisten Wartan Khatisian nach der Flucht vor den Türken in die deutsche Todesmaschinerie.

Soll heißen: Die Nazis machten es eben besser. Wohlgemerkt: Die Tragödie der Armenier ist durch die Romane zweier deutscher Juden in den Fokus der Weltöffentlichkeit geraten: durch ebenjenes Buch Werfels, Musa Dagh, und durch Hilsenraths Das Märchen vom letzten Gedanken, ein tief beeindruckender Roman, für den er 1989 den Alfred-Döblin-Preis bekommen hat.

Von den großen Verlagen in Deutschland wurde der Schriftsteller lange Zeit ignoriert.

Wartan Khatisian sagt im Buch, kurz vor seinem Tod: «Ich weiß, dass mein letzter Gedanke zurückfliegen wird in die Lücken der türkischen Geschichtsbücher. Und weil ich das weiß, werde ich friedlicher sterben als andere vor mir, die das nicht wissen.» Wer, wenn nicht ein Überlebender der Schoa, hätte sich dieses Themas besser annehmen können?

Am vergangenen Sonntag starb Edgar Hilsenrath im Alter von 92 Jahren. Seine Stimme wird fehlen.

Dmitrij Kapitelman

Kitt der Diaspora

Die Liebe zur russischen Sprache nimmt im neuen Roman eine zentrale Rolle ein – der Angriff auf die Ukraine ist stets als dunkler Schatten präsent

von Eugen El  27.03.2025

Slata Roschal

Lyrik oder Prosa?

Warum nicht beides, dachte die Autorin – und erweist sich als geschickte Wanderin zwischen den Welten

von Frank Keil  27.03.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 27. März bis zum 2. April

 27.03.2025

Berlin

Hans Rosenthal entdeckte Show-Ideen in Fabriken

Zum 100. Geburtstag des jüdischen Entertainers erzählen seine Kinder über die Pläne, die er vor seinem Tod noch hatte. Ein »Dalli Dalli«-Nachfolger lag schon in der Schublade

von Christof Bock  27.03.2025

Imanuels Interpreten (7)

Peter Herbolzheimer: Der Bigband-Held

Der jüdische Posaunist, Komponist, Arrangeur, Bandleader und Produzent rettete Bigbands, gründete seine eigene und wurde Jazz-Rock-Pionier. Heute ist sein 15. Todestag

von Imanuel Marcus  27.03.2025

Yael Van der Wouden

»Es ist doch eine Liebesgeschichte!«

Die Schriftstellerin über Sexszenen, queeres Begehren und ihren Debütroman, der für den Booker Prize nominiert war

von Ayala Goldmann  26.03.2025

Jens Bisky

Fünf Jahre reichten aus

Der Kulturwissenschaftler schreibt opulent und facettenreich über das Ende der Weimarer Republik

von Ralf Balke  26.03.2025

Esther Dischereit

Das Bild, das nicht entsteht

Der Roman »Ein Haufen Dollarscheine« ist eine Herausforderung

von Nicole Dreyfus  26.03.2025

Literatur

Schreiben ohne Zwang

Unsere Autorin glaubte, dass sie in Zeiten von Krieg und Rechtsruck ihre Reichweite für Aktivismus nutzen müsse. Dann entschied sie sich doch wieder für die Kunst

von Lana Lux  26.03.2025