Herr Lutset, Sie sind zusammen mit etwa 20 jungen Jüdinnen und Juden zur documenta nach Kassel gefahren. Warum war Ihnen das wichtig?
Was über die documenta in den Medien berichtet wurde, war vor allem negativ. Das ist nicht falsch, aber über die eigentliche Idee der Ausstellung wurde kaum etwas geschrieben. Die documenta ist ein Beispiel für eine neue Art der Kunst, die sozial und kollektiv ist und der es um die Verbesserung der Welt geht. Eigentlich etwas, das viel mit unserer jüdischen Tradition zu tun hat. Mein Gedanke war, man muss sich die documenta erst einmal mit eigenen Augen ansehen, um ein Urteil fällen zu können. Deshalb habe ich die Reise nach Kassel auch »documenta selbst (ver-)urteilen« genannt.
Ist es nicht genau dieser kollektive Charakter, der in Kassel zur Verantwortungslosigkeit geführt und damit auch die antisemitischen Bilder ermöglicht hat?
Natürlich. Aber die Frage ist, ob man wegen dieses Skandals die ganze documenta verurteilen sollte. Mir ist es wichtig, dass es wieder mehr um die Kunst auf der Ausstellung geht. Man sollte beide Seiten der documenta, das Gute wie das Schlechte, betrachten.
Welche Einstellungen hatten Ihre Mitreisenden gegenüber der documenta?
Es gab ein paar, die von Anfang an sehr kritisch eingestellt waren und die sagten, warum sollen wir Steuerzahler für antisemitische Kunst zahlen? Unter den sehr Kunstinteressierten waren viele, die auch einfach die documenta gerne besuchen wollten, ohne diese gleich zu verurteilen. Dass sich junge Juden mit unterschiedlichen Meinungen zu der Ausstellung begegnen, war mir sehr wichtig. Solche Konflikte innerhalb einer Gruppe auszuhalten hat etwas sehr Jüdisches, und es gab unter den Teilnehmern lebendige Diskussionen.
In Kassel haben Sie Iswanto Hartono von ruangrupa sowie zwei documenta-Künstler getroffen. Wie verlief das Gespräch?
Eine Frage, die wir gestellt haben, war, wie es dazu kommen konnte, dass etwa Propagandafilme der japanischen Roten Armee Fraktion auf der documenta gezeigt werden. Leider konnte darauf Iswanto überhaupt keine klare Antwort geben und meinte, dass es nicht in seiner Macht stehe, daran etwas zu ändern. Er hat aber viel Verständnis selbst für sehr harte Kritik von unserer Seite aufgebracht. Es wurde bei dem Gespräch auch zugegeben, dass es auf der documenta ein Problem mit Antisemitismus gibt.
Welche documenta-Werke haben Sie genauer unter die Lupe genommen?
Neben den bereits erwähnten Propagandafilmen, die ich am schlimmsten finde, war das auch die Reihe »Guernica Gaza« von Mohammed al Hawajris. Der Titel ist bereits eine Provokation. In einem Teil der Reihe wurden in einem Gemälde von Jean-François Millet die beiden biblischen Figuren Ruth und Boaz, Vorfahren von König David, mit Bildern von israelischen Soldaten übermalt. Das ist bewusster Antisemitismus. Davon abgesehen ist das Werk einfach schlecht gemacht. Ich finde es schade, dass so etwas viel mehr Aufmerksamkeit bekommt als die wirklich guten Arbeiten.
Was würden Sie sich mit Blick auf die letzten Wochen der documenta wünschen?
Die documenta nennt ihr kommunikatives Konzept »Harvest«, also »Ernte«. Interessanterweise endet die Ausstellung genau am Vorabend von Rosch Haschana, wo das ebenfalls eine wichtige Rolle spielt. Ich wünsche mir sehr, dass diese Parallele ein Anstoß für einen echten Dialog wird.
Mit dem Aktivisten und Künstler sprach Joshua Schultheis.