Stellas Mutter hat einen geheimen Auftrag: Einmal im Jahr ist sie Sonnenkönigin. Sie hilft der Sonne, auf- und wieder unterzugehen. Und Stella darf Sonnenprinzessin sein. Anfangs ist sie skeptisch. Doch dann lässt sie sich auf das Abenteuer ein. Zusammen mit ihrer Mutter steht sie vor Morgengrauen auf und schwingt sich aufs Fahrrad. Ihr Ziel sind die Hügel vor der Stadt.
Noch liegen die Straßen im Dunkeln, fliegen die Vögel lautlos, weht ein kalter Wind – nichts deutet darauf hin, dass die Nacht vorübergehen wird. Dennoch scheint Stella ihre Zweifel abgeschüttelt zu haben. Nun ist sie es – mehr noch als die Mutter –, die die Sonne zum Aufgehen bewegen will. Erst stimmt sie zaghaft in das Flüstern der Mutter ein: »Geh auf, geh auf, meine Sonne …«.
Parabel Dann beginnt sie zu tanzen, bis die Mutter mittanzt. Das Kind spielt auf seiner Flöte eine Melodie, und die Mutter summt mit – bis sich am Horizont ein heller Streifen zeigt, dessen Licht sich allmählich auf Wolken, Bäume und Stadt ergießt: Stella und ihre Mutter haben es geschafft.
Was Mutter und Tochter in David Grossmans Märchen Die Sonnenprinzessin erleben, ist eine wunderbare Parabel über die Kraft der Fantasie und die Macht der Sprache. Denn es ist etwas Besonderes, wenn man die Sonne selbst geweckt hat – alles strahlt in einem einzigartigen Licht.
Als Stella und ihre Mutter am Ende des Tages ans Meer fahren und mit ihren Worten die Sonne wieder zum Einschlafen bringen, hat Stella eine Erfahrung gemacht: Jeder kann seine Wirklichkeit selbst erschaffen. Denn was Stella und ihre Mutter bewirken können, gilt genauso für andere. Jeden Tag ist ein anderer Mensch König oder Königin, Prinz oder Prinzessin der Sonne, verrät ihr die Mutter vor dem Einschlafen. Wer es morgen sein wird, ist noch geheim.
Vorstellungskraft Das Bilderbuch von David Grossman und der Multimedia-Künstlerin Michal Rovner ist ein Märchen für Menschen jedes Alters. Gerade weil der Text eher sparsam gehalten ist, öffnet der Autor Raum für die Fantasie. Grossman zeigt, dass Menschen nicht viele Worte brauchen, um Wünsche, Träume und Vorstellungskraft in Gang zu setzen. Was im Reich der Fantasie beginnt, wirkt in die Wirklichkeit hinein.
Oft reichen eine Idee, ein Bild, ein Gegenstand, die dank der Kraft der Vorstellung und Sprache magische Kräfte freizusetzen scheinen und die Wirklichkeit buchstäblich in einem anderen Licht erstrahlen lassen. Alles ist möglich, glaube an dich und an den Wert der Fantasie – das ist das Geschenk, das Stellas Mutter ihrer Tochter mit auf den Weg gibt, indem sie sie auffordert, in eine Rolle zu schlüpfen.
David Grossman, Michal Rovner: »Die Sonnenprinzessin. Eine Gute-Nacht-Geschichte«, Übersetzt von Anne Birkenhauer. Hanser, München 2016, 48 S., 15 €