Es sind Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus dem Israel des Jahres 1951, die einerseits eine optimistische Aufbruchsstimmung zeigen und viel Vitalität vermitteln, andererseits aber Gefühle von Unsicherheit sowie Ängste vor Verletzbarkeit nicht verbergen können.
Da ist beispielsweise das Foto von drei jungen Frauen, die erwartungsvoll und zugleich verunsichert aus dem Fenster eines Flugzeugs am Lydda Airport, dem Vorläufer des heutigen Flughafens Ben Gurion, schauen, auf dem sie gerade von irgendwoher als Neueinwanderer gelandet sind. Oder die kleine Tirza, die abgestützt auf den wacklig aussehenden Abflussrohren zweier Waschbecken mutig einen Spagat hinlegt.
Genau diese Ambivalenz kommt in den Bildern der amerikanischen Fotografin Ruth Orkin immer wieder zum Ausdruck. Einige davon sind jetzt in der Galerie f3 – freiraum für fotografie im Berliner Bezirk Kreuzberg zu sehen.
»Alltagsszenen, Stadtlandschaften, Porträts. Ruth Orkins Fotografien erzählen Geschichten«, heißt es dazu auf einer Informationstafel zu der Ausstellung, die bis zum 21. November für die Öffentlichkeit zugänglich ist. »Vom aufstrebenden Amerika der Nachkriegszeit, vom Lebensgefühl einer Gesellschaft im Aufschwung und von Frauen, die sich neue Rollen erobern, jenseits der von Hausfrau und Mutter.«
EL AL Dies lässt sich zweifelsohne auch über die Aufnahmen sagen, die Orkin in Israel machte. Der jüdische Staat war damals gerade erst drei Jahre alt, als Ruth Orkin auf Einladung der Fluggesellschaft EL AL dorthin reiste, um Land und Leute kennenzulernen. Menschen, die aus Europa und der arabischen Welt flohen, dominierten das Bild, und die Zukunft schien angesichts wirtschaftlicher Probleme sowie der verschiedenen Bedrohungsszenarien alles andere als gesichert. All das spiegelt sich in ihren Fotos wider, die sie in den zweieinhalb Monaten ihres Aufenthaltes für das renommierte Magazin »Life« schoss.
Dabei war Ruth Orkin ihre Karriere als Fotografin alles andere als in die Wiege gelegt worden. »Mein ursprüngliches Interesse galt dem Film«, hat sie einmal gesagt. »Vielleicht kommt es daher, dass ich mit meinen Fotos Geschichten erzählen wollte. Auch wenn die Bilder sich nicht bewegten.« Am 3. September 1921 wurde sie in Boston geboren, wuchs aber in Hollywood auf, wo ihre Mutter Stummfilmschauspielerin war. Bereits im Alter von zehn Jahren bekam Ruth Orkin ihren ersten Fotoapparat, eine einfache Univex – das war wohl so etwas wie die Initialzündung. Doch ihr eigentlicher Traum, Kamerafrau zu werden, sollte sich nicht erfüllen. Die großen Studios stellten ausschließlich Männer ein. Also studierte Orkin Fotojournalismus.
LEIDENSCHAFT Auch eine zweite Leidenschaft zeigte sich bereits im Teenageralter, und zwar das Reisen und Welterkunden. Als 17-Jährige schwang sie sich aufs Fahrrad und fuhr allein von Los Angeles bis New York, ihrer späteren Wahlheimat, was damals einer Sensation gleichkam. Mit den in dieser Zeit gemachten Aufnahmen schaffte sie den Durchbruch, wurde als Fotografin bekannt, aber lange Zeit nicht richtig gewürdigt. Denn bis in die Gegenwart steht die 1985 verstorbene Ruth Orkin im Ruf, eine talentierte Hobbyknipserin zu sein, mehr aber auch nicht.
Die Ausstellung in Berlin sowie ein soeben im Hatje Cantz Verlag erschienener Bildband wollen dieses schiefe Image korrigieren und ihr endlich die Aufmerksamkeit verschaffen, die sie verdient. »In ihrem Leben und ihrer Arbeit hat Ruth Orkin immer wieder die Erwartungen der Gesellschaft erfahren, reflektiert und unterlaufen«, betonen die Macher der kleinen Werkschau. »Ihre Fotografien sind moderne, freie und scharfsinnige Kommentare zu jener Zeit.«
PROMINENTE In einem Punkt glaubte die Fotografin, im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen im Vorteil zu sein. Fremde seien ihr als Frau gegenüber weniger misstrauisch gewesen, betonte sie einmal. Das hätte ihr ermöglicht, zu ansonsten eher schwierigen Kandidaten wie den Schriftstellern W. H. Auden oder Tennessee Williams und dem Regisseur Alfred Hitchcock eine gewisse Nähe zu entwickeln. So machte sie sogar von dem jungen Dirigenten Leonard Bernstein ein Foto mit freiem Oberkörper. Und ein 1963 entstandenes Bild von Woody Allen zeigt den schmächtigen Gag-Schreiber und Schauspieler ausgerechnet vor einem gigantischen Fürstengemälde aus der Barockzeit im Metropolitan Museum of Art.
Unmittelbar nach ihrem Aufenthalt in Israel reiste die Fotografin nach Italien, wo sie Ninalee Craig kennenlernte, eine andere Amerikanerin auf Europatour. Beide freundeten sich an. Daraus entstand unter dem Titel »Don’t Be Afraid to Travel Alone« ihr wohl bekanntestes Bild, das eine junge Frau im schwarzen Kleid in der Altstadt von Florenz zeigt, die von einem Dutzend Männer angestarrt wird. 1952 erschien es im Magazin »Cosmopolitan«. Die Kritik am Umgang mit Frauen im öffentlichen Raum kommt als Zufallsmoment daher, obwohl die Inszenierung offensichtlich ist. Auch hier zeigt sich, dass die Ambivalenz so etwas wie Ruth Orkins Markenzeichen ist. Wie bereits bei den Bildern aus Israel.