»Warum isst Stevie Wonder so gerne Mohnbrötchen? Weil da so interessante Geschichten draufstehen.« So geht ein Witz, der sich – nicht gerade politisch korrekt – über die Blindheit des berühmten Soulsängers lustig macht. Erinnern die Körner auf den Frühstücksbrötchen doch mit viel Fantasie an jene Punktmuster, aus denen die 1825 von Louis Braille entwickelte Blindenschrift besteht. Buchstaben und Wörter lassen sich auf diese Weise mit den Fingerspitzen ertasten, so dass auch Sehbehinderten die Teilnahme an der Schriftkultur möglich ist.
Ging man bisher davon aus, dass Blinde und Sehende Schrift in unterschiedlichen Hirnregionen verarbeiten – die einen in dem für das Tasten, die anderen in dem für das Sehen zuständigen Areal –, haben Forscher der Hebräischen Universität Jerusalem nun Hinweise darauf gefunden, dass vielmehr in beiden Fällen derselbe Teil des Gehirns zum Einsatz kommt. Wenn das stimmt, würden einige Annahmen über die Funktionsweise des menschlichen Gehirns schlechthin über den Haufen geworfen. Die Ergebnisse ihrer Studie haben die Forscher in der Märzausgabe der Fachzeitschrift Current Biology veröffentlicht.
hirnscan Amir Amedi, Hirnforscher am kürzlich gegründeten »Edmond and Lily Safra Center for Brain Sciences«, und seine Mitarbeiter haben acht Versuchsteilnehmer, die von Geburt an blind waren, Texte in Braille-Schrift lesen lassen. Gleichzeitig haben die Forscher an ihnen eine funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) durchgeführt – das heißt, die Probanden wurden in einen Kernspintomografen geschoben, der ihre Gehirnaktivität während des Lesens aufzeichnete. Mittels dieses bildgebenden Verfahrens lässt sich sichtbar machen, welche Gehirnregion bei einer bestimmten Tätigkeit aktiviert wird. Es stellte sich heraus: Beim Lesen der Braille-Texte feuerten die Neuronen in einem Areal, das als »visuelles Wortformareal« (VWFA) bezeichnet wird.
Dieses Areal hatte Laurent Cohen, Neurologe an der berühmten Salpêtrière in Paris und Co-Autor der aktuellen Studie, im Jahr 2003 erstmals beschrieben. Es handelt sich um einen Bereich in der linken Hirnrinde, genauer gesagt im occipito-temporalen Sulcus. Cohen zufolge wird das VWFA aktiviert, sobald beim Lesen eines geschriebenen Textes Wörter erkannt werden. Bisher ging ein Großteil der Hirnforscher allerdings davon aus, dass dies nur dann der Fall ist, wenn Texte mit den Augen wahrgenommen werden (daher der Ausdruck visuelles Wortformareal). Die dahinterstehende Annahme: Für jeden Sinneskanal ist eine andere Gehirnregion zuständig, Gesehenes wird in einem anderen Areal verarbeitet als Gehörtes oder Ertastetes.
Diese Annahme wollten Amedi und seine Kollegen widerlegen. Ihre Theorie: Das Gehirn arbeitet nicht »unimodal« (ein Areal für das Sehen, eines für das Hören usw.) sondern »multimodal« beziehungsweise »aufgabenorientiert«. Heißt die Aufgabe zum Beispiel »Lesen«, dann sollte, so der Gedanke, die selbe Hirnregion aktiv werden, egal ob ein Text mit den Augen oder mit den Fingerspitzen aufgenommen wird.
Aus diesem Grund arbeitete das Team um Amedi nur mit Probanden, die von Geburt an blind waren – um auszuschließen, dass sie das visuelle Areal in früheren Lebensjahren bereits ausgebildet hatten. Die Ergebnisse bestätigen die Annahme der Jerusalemer Forscher. Denn andernfalls hätte bei den Blinden ein anderer Teil des Gehirns aktiviert werden müssen, der für Tasteindrücke zuständig ist. Das war aber nicht der Fall. »Ein bestimmtes Hirnareal erfüllt eine bestimmte Funktion, in diesem Falle Lesen, unabhängig davon, welches Sinnesorgan die Eindrücke liefert«, fasst Amir Amedi zusammen.
evolution Noch ist das multimodale Modell eine Minderheitenposition in der Neurowissenschaft. Doch ein ähnlicher Versuch am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in den USA (beschrieben in den Proceedings of the National Academy of Sciences) stützt die Befunde von Amedi. Ein Forscherteam um die Kognitionswissenschaftlerin Rebecca Saxe untersuchte Blinde und Sehende ebenfalls mittels fMRT. Dabei wurden den Teilnehmern, nachdem sie in den Scanner geschoben wurden, gesprochene Texte vorgespielt. Der Input wurde also über das Gehör aufgenommen. Und sowohl bei den Blinden als auch bei den Sehenden zeigte sich erhöhte neuronale Aktivität im Sprachzentrum des Gehirns. Bei den Blinden war aber darüber hinaus der visuelle Kortex, die Sehrinde – in der sich auch das visuelle Wortformareal befindet –, deutlich aktiver als bei den Sehenden.
Dieses Resultat erscheine zunächst unplausibel, sagt Saxe, da man bislang davon ausgegangen sei, dass der visuelle Kortex bei der Sprachverarbeitung keine Rolle spiele. Nun zeige sich, dass ein Hirnareal neue hochkomplexe kognitive Aufgaben erlernen könne.
Amir Amedi ist davon nicht überrascht: »Diese Flexibilität des Gehirns ist bereits bekannt.« Im Falle des Lesens sei das sogar die einzig plausible Erklärung. »Die Schrift wurde erst vor 5.400 Jahren erfunden, Braille vor kaum 200 Jahren«, erklärt Amedi. Da war das menschliche Gehirn evolutionär bereits ausgereift. »Die Fähigkeit zu lesen beruht also von vornherein auf bereits bestehenden Gehirnstrukturen und -funktionen.«