Mit dem Fahrstuhl in den 10. Stock, eine Wendeltreppe hinauf in die Kuppel eines Turms führt der Weg zur Pressekonferenz, auf der am vergangenen Donnerstag in Berlin die Pläne für ein gigantisches Projekt vorgestellt wurden: der detailgetreue Nachbau des menschlichen Gehirns im Computer bis 2023. Mit diesem »Human Brain Project« bewerben sich Forscher aus neun EU-Ländern um eine Förderung von einer Milliarde Euro bei der Europäischen Kommission.
Projektleiter Henry Markram von der Schweizer École Polytechnique Fédérale de Lausanne vergleicht das Unterfangen mit der Mondlandung. Eine Mission mit ungekannten Möglichkeiten für die Menschheit: Mit dem virtuellen Gehirn wollen die Forscher den menschlichen Geist endlich enträtseln. Die Simulation soll verraten, wie neurologische Erkrankungen – etwa eine Demenz – geheilt werden können. Neuartige Medikamente und Implantate könnten am virtuellen Modell erprobt werden und schneller als heute auf den Markt kommen. Die Datenverarbeitung im rekonstruierten Hirn soll aber auch eine neue Generation von elektronischen Geräten, vor allem Supercomputern, begründen. Nicht zuletzt soll es Robotern ein Gedächtnis verleihen. In Europa werde eine Gehirntechnologie-Industrie erblühen, glaubt Markram.
interdisziplinär Man staunt, während der Neurowissenschaftler seelenruhig spricht: »Das Gehirn ist nicht das Problem eines Menschen. Es ist ein interdisziplinäres Problem, das nur gelöst werden kann, wenn wir alle zusammenarbeiten.« Chemiker, Physiker, Informatiker und Mediziner – rund tausend Doktoranden gedenkt Markram für die Mission einzuspannen.
Deutschland ist im Human Brain Project den Plänen zufolge überproportional vertreten: Das Forschungszentrum Jülich will den Supercomputer bauen, der nötig ist, um das menschliche Gehirn nachzubilden. Dieser muss 1000-mal leistungsfähiger sein als verfügbare Rekordrechner. Der Technischen Universität München ist die Wiege der denkenden Roboter zugedacht. Da aber kein Supercomputer in einen mannsgroßen Roboter passt, muss die Universität Heidelberg handliche neuromorphe Chips entwickeln, die dem Gehirn nachempfunden sind. Schließlich soll das Münchner Bernsteinzentrum aus den Daten der Hirnforschung Prinzipien ableiten, die für den Bau des virtuellen Gehirns nützlich sind.
Befund Man könnte den Eindruck gewinnen, die versammelten sieben Wissenschaftler hätten sich einer »Mission impossible« verschrieben. Doch einiges spricht dagegen: Projektleiter Markram wirkt keineswegs abgehoben. Er redet ruhig, mit großen, zugleich feinsinnigen Gesten. Man hat das Gefühl, er sagt nur, was er wirklich glaubt. Er ist eben zutiefst überzeugt, dass man das Gehirn nur verstehen wird, wenn man einen Paradigmenwechsel in der Hirnforschung einleitet: Nicht neue kleinteilige Befunde, sondern nur das Zusammenführen der bisherigen Erkenntnisse zu einer Ganzheit kann das Rätsel lösen.
Die Hirnmaschine verkörpert dieses holistische Konzept.
supercomputer Schon als Doktorand am israelischen Weizmann-Institut war Markram dem menschlichen Gehirn auf der Spur, damals allerdings noch im Kleinen. Der gebürtige Südafrikaner jüdischer Herkunft entdeckte, wie der Botenstoff Acetylcholin zur Gedächtnisbildung beiträgt. Dann, 2005, schlägt er einen neuen Kurs ein. Im »Blue Brain Project«, an dem auch der Jerusalemer Hirnforscher Idan Segev beteiligt ist, fügt Markram seither das Gehirn einer Ratte in seinem Supercomputer in Lausanne zusammen. Zurzeit umfasst es einige 10.000 Zellen. Bis zum menschlichen Gehirn sind es 100 Milliarden Neuronen.
Bisher haben Gehirn und Computer allerdings wenig gemein. Der Geist beansprucht keine Turnhalle wie moderne Hochleistungsrechner. »Er kann lernen, ist enorm robust und fehlertolerant«, erklärt Karlheinz Meier, Physiker der Universität Heidelberg. »Das Spektakulärste ist aber der extrem geringe Energieverbrauch von einigen zehn Watt im Gegensatz zu vielen Megawatt bei unseren Großrechnern.« Wenn die modernen Rechenmaschinen noch leistungsfähiger werden, müsste man ein Atomkraftwerk danebenstellen – »undenkbar«, sagt Meier. »Deshalb brauchen wir etwas Neues.«
Robotikforscher Alois Knoll von der Technischen Universität München bringt es auf den Punkt: »Das Gehirn ist der einzig mögliche Leitgedanke für die Zukunft.« Überspitzt formuliert steuert die IT also ohne Verständnis des Gehirns in eine Sackgasse. Umgekehrt wird auch die Hirnforschung ohne die Computerwissenschaften bald feststecken, glaubt Katrin Amunts vom Forschungszentrum Jülich. Mittels Polarisationsbildgebung kann das Gehirn beispielsweise auf einen Mikrometer genau durchleuchtet werden. Pro Kopf erhält man dabei aber 520 Terabyte an Daten, die nur mit Neuroinformatik und Computertechnik gesichtet werden können. Im Licht dieser Argumente erscheint die Verschmelzung von Geist und IT als logischer Schritt.
philosophie Und trotzdem stehen die Forscher vor gewaltigen ungelösten Aufgaben. Nur zwei dieser Art: Die Nervenzellen sind über Fasern verknüpft, die ein Geflecht von einer Million Kilometern einnehmen. »Das ist bisher eine Terra incognita«, so Amunts. Zudem sind die verschiedenen Typen von Nervenzellen und ihr Erbgut nicht entschlüsselt. Und dann wäre da die übergeordnete, fast schon philosophische Frage: Lässt sich das Gehirn wirklich auf ein Geflecht diverser Neuronen reduzieren, das letztlich nur durch die Eigenschaften jeder Zelle bestimmt wird? Diese Annahme liegt dem Human Brain Project zugrunde.
Doch bislang ist das Vorhaben nur einer von sechs Kandidaten. Maximal zwei werden zum EU-Flaggschiff erkoren und ab 2013 für eine Dekade mit einer Milliarde Euro ausgestattet. Was, wenn die Mission »künstliches Gehirn« vor dem Start scheitert? Henry Markram sagt: »Dann wird es länger dauern, vielleicht bis 2030 oder 2050. So lange können wir nicht warten.« Verschmitzt fügt er hinzu: »Aber natürlich sind wir voreingenommen. Letztlich muss die Gesellschaft entscheiden, ob sie all das will.«