Für Soziologen ist die Familie die Grundeinheit der Gesellschaft. Manche Psychologen sehen sie als Brutstätte von Neurosen. Im Judentum wird durch die Familie der Glaube tradiert. Gleich, welcher dieser Theorien man anhängt: Familie spielt im Leben jedes Menschen eine zentrale Rolle. Man kommt nicht um sie herum und nicht aus ihr heraus. Da ist es passend, dass das Jüdische Museum München seine neue Ausstellung zeitgenössischer israelischer Video- und Fotokunst diesem Thema widmet. »Family Files«, Familienakten, heißt die von Ronit Eden und Galia Gur Zeev kuratierte Schau, in der bis September 16 israelische Künstler für das Publikum sozusagen ihre Familienalben aufblättern.
esstisch Da zeigt Elinor Carruci intime Aufnahmen ihrer Eltern, Großeltern, und von sich selbst mit ihrem Partner. Itay Ziv sucht für sich und seine Angehörigen eine neue Identität, indem er mit ihnen in die Rolle ultraorthodoxer Charedim schlüpft. Tomar Kep, in Israel aufgewachsener Enkel eines kambodschanischen Diplomaten, der nach dem Machtantritt der Roten Khmer nicht mehr in die Heimat zurückkehren konnte, porträtiert sich als Entwurzelten. Noa Sadkas Video präsentiert sich, ihren Lebensgefährten und ihre kleine Tochter in den Räumen ihres Hauses. Nur einen, aber für das Familienleben zentralen Teil der Wohnung macht Gur Zeev zum Thema: den Esstisch, um den die Familie sich sammelt. Bei Oded Hirsch ist die Familie der Kibbuz, in dem er aufwuchs. Boaz Tal hat sich mit Frau und Kindern als Serie von Aktaufnahmen verewigt. Yardi Kahanas Angehörige repräsentieren den politisch-kulturellen Riss, der durch Israel geht: Nationalreligiöse Siedler auf der einen, säkulare Kibbuzniks auf der anderen Seite.
eltern Erez Israeli stellt in den Mittelpunkt seines Videos die Mutter, in Posen, die Michelangelos Pièta nachempfunden sind. Auch bei Tal Shochat ist es die symbiotische Beziehung zur Mutter, die sich in ihren Bildern widerspiegelt. Nurit Yarden hat Dias aus dem Familienalbum mit Unterschriften versehen, welche die dargestellte Idylle dekonstruieren. Reli Avrahami zeigt den Tag, an dem ihr Sohn in die Armee einrückte und quasi eine Familie gegen eine andere tauschte. Bei Noa Ben-Nun Melamed, Tochter eines Marinekommandanten, prägen verfremdete maritime Motive die Bilder. In Ronni Lahavs Video sieht man Großmutter, Mutter und sie selbst Stricksachen aufribbeln; dabei wird auch die Familiengeschichte aufgedröselt. An die Wurzeln seiner Familie kehrt auch der Palästinenser Raed Bawayah in historischen Aufnahmen zurück. Und Felix Kris, Sohn von Zuwanderern aus der Ex-Sowjetunion, zeigt Fotos von sich mit seinen Eltern in Aschkelon – es könnte auch Dnjepropetrowsk sein, so »russisch« ist die Atmosphäre.
Auf einen Nenner zu bringen sind die gezeigten Arbeiten nicht. Die Bilder sind so vielfältig und widersprüchlich wie ihr Gegenstand. »Alle glücklichen Familien gleichen einander. Jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich«, hat Tolstoi einmal geschrieben.
»Family Files« – Zeitgenössische Fotografie und Videokunst aus Israel. Jüdisches Museum München, bis 12. September
www.juedisches-museum-muenchen.de
Der Ausstellungskatalog ist im Kehrerverlag Heidelberg erschienen (144 S., 90 Abb., 24,90 €)