Dass Historiker eines Tages über die Geschichte der Juden in Deutschland nach der Schoa ein dickes Buch schreiben würden, hätte Ende der 40er-Jahre niemand für möglich gehalten. Eine kleine Broschüre vielleicht, aber keinen Aufsatzband von mehr als 500 Seiten! So viel Stoff würde niemals zusammenkommen. »Juden« und »Deutschland« waren durch den millionenfachen Mord zu einem Begriffspaar geworden, zu dem das Wort Zukunft nicht passte. Deutschland galt den meisten Juden als »blutgetränkte Erde«, auf der jüdisches Leben unmöglich erschien. Jegliche jüdische Präsenz im Land der Mörder sollte auf alle Zeit geächtet sein. So beschloss es der Jüdische Weltkongress im Sommer 1948 bei einem Treffen im schweizerischen Montreux.
Doch nicht alle hielten sich daran. Das von den Alliierten besetzte Deutschland bildete in den ersten Nachkriegsjahren eine wichtige Durchgangsstation für jüdische Überlebende aus Osteuropa. Einige von ihnen blieben und bauten gemeinsam mit überlebenden und aus dem Exil zurückgekehrten deutschen Juden Gemeinden auf.
Zuwanderung Der Historiker Michael Brenner, Lehrstuhlinhaber für Jüdische Geschichte und Kultur an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, hat einen Band herausgegeben, der erstmals schildert, wie sich jüdisches Leben nach dem Holocaust über sechs Jahrzehnte in Deutschland entwickelte.
Neun Autoren – unter ihnen sehr renommierte wie Brenner selbst oder die Historiker Dan Diner, Norbert Frei und Atina Grossmann – beschreiben die Versuche der Rückkehrer, in Deutschland wieder Fuß zu fassen, erzählen vom Leben in den Camps für sogenannte Displaced Persons (DPs) und gehen den Fragen nach, welche Rolle die neue jüdische Präsenz für die deutsche Gesellschaft spielte. Im letzten Kapitel schließlich schildern sie, wie im wiedervereinigten Deutschland durch die Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion die am schnellsten wachsende jüdische Gemeinde der Welt entstand.
In seinem Essay »Im Zeichen des Banns«, der dem Buch voransteht, beschreibt Dan Diner, wie scharf und unversöhnlich der israelische Gesandte Chaim Yahil im Sommer 1949 jene Juden kritisierte, die sich nach der Schoa in Deutschland niederließen: Sie seien »parasitäre« Charaktere, die die Würde Israels befleckten und »offenbar nicht gewillt seien, sich den korrumpierenden Fleischtöpfen Deutschlands zu versagen«. Durch ihr »provokatives« Auftreten würden sie den Antisemitismus aufs Neue herausfordern. Ihr Einfluss auf andere Juden, besonders im jungen Staat Israel, sei gefährlich, so Yahil. Diner resümiert: »Das (…) verächtliche Urteil sollte die in Deutschland sich zögerlich etablierende jüdische Gemeinschaft auf Dauer begleiten.«
Barometer Anders als Israel und der jüdischen Welt war den Alliierten sehr an einer jüdischen Präsenz in Deutschland gelegen. Atina Grossmann und Tamar Lewinsky beschreiben in ihrem Aufsatz über die Displaced Persons, wie im Sommer 1950 eine »illustre Runde« auf einer Konferenz über die Zukunft der Juden in Deutschland diskutierte. Dabei hielt der amerikanische Militärgouverneur John J. McCloy ein leidenschaftliches Plädoyer. »Die anhaltende Präsenz von Juden, argumentierte er, solle als eine Art Barometer und Garantie für die moralische Rehabilitierung der Deutschen dienen.« Worte, an die sich so mancher im vergangenen Sommer während der Beschneidungsdebatte erinnerte.
Dass die Funktion der Juden als »Lackmustext der deutschen Demokratie« aber auch Gefahren nach sich zog, schildern Michael Brenner und Norbert Frei im zweiten Teil des Bandes. Dort beschreiben sie die Entwicklung der Gemeinden, die Politik des Zentralrats und seiner Vorsitzenden, die »Wiedergutmachung« sowie den Umgang mit altem und neuem Antisemitismus.
Brenners Buch basiert auf der Grundlage breiter Archivrecherchen. Schon jetzt ist es ein Standardwerk. Wer die jüdische Gemeinschaft in Deutschland verstehen möchte, muss es lesen.
Michael Brenner (Hrsg.):
»Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart. Politik, Kultur und Gesellschaft«. C.H. Beck, München 2012, 542 S., 34 €