Slata Roschal

»Mir gefällt das Undefinierte«

In ihrem Romandebüt erzählt die 30-jährige Autorin von einer Selbstermächtigung zwischen verschiedenen Kulturen

von Frank Keil  23.03.2022 08:08 Uhr

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In ihrem Romandebüt erzählt die 30-jährige Autorin von einer Selbstermächtigung zwischen verschiedenen Kulturen

von Frank Keil  23.03.2022 08:08 Uhr

Manche Kapitel haben nur ein paar Zeilen. Andere füllen zwei, drei Seiten. Es gibt schöne poetische Kindheits- und Jugendschilderungen, es gibt eingestreute Träume, auch Kassenzettel, verschiedene Psalmen könnte man mitsingen. Es finden sich Internet-Links und eBay-Kleinanzeigen, wo Übersetzungsdienste vom Russischen ins Deutsche und umgekehrt angeboten werden oder Tipps folgen, wie man russische Frauen kennenlernen kann (Auf Fotos immer lächeln! Nie Geld schicken!).

Es gibt auf die Handlung bezogene Vorgriffe und Rückgriffe. Es gibt eine leere Seite, die man selbst ausfüllen kann. Es gibt Szenen einer ermüdenden Ehe und Erinnerungen an den abtrünnigen Onkel Sascha, der sich aufgehängt hat.

LYRIKERIN Slata Roschals Debüt-Roman 153 Formen des Nichtseins ist alles andere als ein von Anfang bis Ende durchgeschriebener Roman. »Ich bin ja in erster Linie Lyrikerin und hadere mit klassischen Erzählungen«, sagt die Autorin. Und: »Dass Autoren mit Migrationshintergrund ihre Geschichte erzählen, das gibt es sehr viel, und ich mag das auch nicht besonders.« Und so ist ein ganz anderer, wuchtiger Roman entstanden, ein mäanderndes Buch über die Selbst­ermächtigung einer jungen Frau zwischen diversen Kulturen in 153 Kapiteln.

Slata Roschal wird 1992 in St. Petersburg geboren, kommt als Fünfjährige mit der Familie nach Deutschland, wächst in Schwerin auf. Sie studiert an der Universität Greifswald, bekommt den Literaturpreis des Landes Mecklenburg-Vorpommern, weitere Preise und Stipendien folgen. Für ihre Promotion in Slawistik wechselt sie 2017 nach München an die Ludwig-Maximilians-Universität. Ein erster Gedichtband erscheint, dann ein zweiter. Gerade macht sie sich als Schriftstellerin selbstständig.

Und wie autofiktional ist ihre Grundgeschichte von Ksenia, einer jungen, suchenden, mal verzweifelnden, dann wieder Hoffnung schöpfenden Frau, die in einer russischen Familie aufwächst, die nach Deutschland ausgesiedelt ist und den Zeugen Jehovas angehört? »Ich bin ein wenig allergisch gegenüber den Fragen nach dem Autor und seiner Biografie«, sagt sie schnell. »Weil ich denke: Alles, was geschrieben wird, stammt aus der eigenen Biografie.« Denn es sei schlicht nicht möglich, gut über etwas zu schreiben, wenn man sich nicht auskenne. Die Autorin sagt zugleich: »Ich hoffe, dass der Text so viel wert ist, dass er einfach trägt – ohne meine Person.«

IDENTITÄT Und dann ist da noch die verzwickte Frage nach der jüdischen Identität, die auch ihre Heldin immer wieder beschäftigt – nicht zuletzt, weil sie immer wieder an sie herangetragen wird. In einer Schlüsselszene sitzt Ksenia, mittlerweile Mutter geworden, mit ihrem Sohn in der Kita, es ist Abholzeit, und sie soll der sehr interessierten Erzieherin erzählen, warum sie eigentlich kein Schweinefleisch äßen. Als das geklärt ist, kommt die nächste Frage: ob sie in die Synagoge gehen würden. Und Slata Roschal lässt ihre Heldin antworten: »Wir sind bisschen Juden.«

Slata Roschal lacht kurz und wird wieder ernst: »Gerade in den letzten Tagen habe ich bei uns zu Hause gesagt, dass das Einzige, was uns gerade bleibt an Identität, ist zu sagen: Wir sind Juden.« Und Slata Roschal sagt mit fester Stimme: »Wir sind immer Außenseiter.« Zitiert ihre Heldin Ksenia, die für sich sagt: »Bin ich Außenseiter, bin ich nicht für etwas auserwählt.«

PUTIN In Deutschland werde sie gerade jetzt ständig auf ihr Russischsein angesprochen und darauf, wie sie zu Putin stehe. »Für meine Verwandten in St. Petersburg wiederum bin ich die Deutsche, die ihr Vaterland verkauft hat.« Mit dem Jüdischen sei es verwandt verworren, mit allerdings für ihr Schreiben produktiveren Folgen: »Ich habe ein Stipendium für jüdische Frauen bekommen, weil ich geschrieben habe: ›Mein Opa liegt auf dem jüdischen Friedhof.‹«

Aber bedeute das, dass sie jüdisch sei? Sie sagt: »Intuitiv finde ich, ich habe das Recht auf dieses Stipendium, weil ich überhaupt nach Deutschland gekommen bin durch das Jüdische, das staatlich anerkannt wurde.« Gleichzeitig habe sie Gewissensbisse: »Weil ich weiß, dass es für die Deutschen ein Trigger ist: jüdisch sein.« Und Slata Roschal sagt nun etwas gelöster: »Mir gefällt das Undefinierte.« Sie sitzt übrigens längst an einem neuen, einem zweiten Roman.

Slata Roschal: »153 Formen des Nichtseins«. Homunculus, Erlangen 2022,
176 S., 22 €

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