Wie heißt es so schön in Hollywood: A new star is born. Ihr Name ist Hannah Einbinder, in den USA bereits ein Name, in Europa noch nicht so bekannt, aber mit der TV-Serie Hacks wird sich das hoffentlich ändern. Und sie ist mit der Betonung ihrer roten Haare, femininer Körperlichkeit und der fröhlichen Hinweise auf ihre Batmizwa vor 13 Jahren so unverstellt selbstbewusst jüdisch, dass die üblichen Social-Media-Antisemiten (gibt es nicht nur in Deutschland und Österreich) sie natürlich bereits entdeckt haben.
In einem Interview sagte sie unlängst: »Für mich ist Judentum immer schon Musik und Tanz und Kunst und Liebe und all diese wirklich erstaunlichen positiven Dinge.« Die Rolle jüdischer Künstler von Stand-up bis Bestsellerliteratur ist für die nordamerikanische Kultur so selbstverständlich geworden, dass auch der dortige Antisemitismus daran nichts ändern wird, zumindest vorläufig.
RESTE Doch da sieht es in Deutschland und Österreich anders aus. Eine amerikanisch-jüdische Kultur, von der wir in Europa und Israel nicht wenig zehren und die sich über Jahrhunderte entwickelte, ist etwas ganz anderes als die Reste jüdischer Kultur, die die NS-Herrschaft übrig ließ. Um einen hebräischen Begriff heranzuziehen: Nach 1945 sprach man von den Überlebenden als »Sheerit Hapleita« (»restliche Überlebende«). Heute kann man auch von »Sheerit HaTarbut« (»Reste der Kultur«) sprechen. Und damit ist nicht der kurzfristige Import israelischer oder russischer Kultur gemeint, sondern was in deutschsprachigen Landen über Jahrhunderte gewachsen ist und innerhalb von zwölf Jahren flächendeckend vernichtet wurde.
Die Versuche einer jüdischen Renaissance nach 1945 scheiterten, denn Lesereisen von Martin Buber oder Ernst Deutschs unermüdliches Bemühen, Lessings Nathan der Weise als Alternative zu Nazi-Unkultur und Nachkriegsbiederlichkeit anzubieten, waren für manche zwar Aha-Erlebnisse, den weiteren Abstieg der deutschen und österreichischen Kultur in Selbst-Entnazifizierung und »arisierte« Mittelmäßigkeit konnten sie und viele andere Initiativen nicht aufhalten.
Umso bedeutsamer sind jüdische Künstler, die sich nicht hinter Gefälligkeiten verstecken.
Die deutsch-jüdische und österreichisch-jüdische Kultur war effektiv zu einer Erinnerung und einem nostalgischen Gefühl geworden. Die »Schwarze Milch der Frühe«, womit einst Paul Celan in seiner »Todesfuge« die deutsche Kultur markierte, klebte förmlich in den Kantinen der Kulturbetriebe, wo sie bis heute Spuren hinterlassen hat. Wenn die zwei Nachfolgestaaten des NS-Imperiums heute, also mehr als 70 Jahre zu spät, wieder deutsche Pässe an Exilierte und Nachgeborene ausgeben, so ist das schlicht Imagepflege in der philosemitischen Tradition der 50er- und 60er-Jahre.
AUFTRITTE Natürlich gab es vielerorts und in den Medien Ansätze, wer hing nicht an Dalli Dalli, an den Filmen von Konrad Wolf, an den wenigen jüdischen Künstlern im Fernsehen der DDR und der Bundesrepublik sowie auf den Bühnen dann, wenn die wenigen hier Gebliebenen und Exilierten für kurze Zeit auftraten. Allerdings taten dies auch Zarah Leander und Heinz Rühmann oder in den letzten Jahren irgendwelche antisemitischen Rapper, damit auch jungen Generationen die Selbstverständlichkeit antisemitischer Traditionen nicht groß erklärt werden muss.
Damit heute nichts vom deutschen Kulturerbe verloren geht, kann man übrigens auch spottbillig die anständig restaurierten Nazi-Filmhits wie Wunschkonzert und Eine Große Liebe und viele andere NS-Filmwerke von den wichtigen staatlich geförderten Medienanbietern beziehen. Das war vor Jahren noch tabu und in die braunen Schmutzmedien verbannt, doch die NS-Unkultur ist in den Mainstream zurückgekehrt. Fragen Sie bei den medialen Anbietern hingegen nach Filmen mit Hedy Lamarr, mit Franziska Gaal, Gisela Werbezirk, Kurt Gerron, Adolf Wohlbrück, den jiddischen Filmen von Edgar Ulmer und den Anti-Nazi-Filmen des Filmexils – dann bleibt der Bildschirm schwarz und die Lektüre deutsch-jüdischer Werke total reduziert …
In welcher Kultur leben wir also? Das sogenannte jüdisch-christliche Abendland ist ein ideologisch vernebeltes Gesamtkunstwerk, das nur als selbst ernannte Illusion existiert. Erinnerung gibt es nur reduziert, sie hat ein Medienereignis zu sein mit schönen bunten Bildern mit Juden und Jüdinnen die Hand schüttelnden Politikern. Umso bedeutsamer sind dagegen die jüdischen Künstler, die sich nicht hinter Gefälligkeiten verstecken, Werte und Können präsentieren, in den Social Media hör- und sichtbar sind. Aber es sind eben nur wenige, und leider kann man die Likes oft sehr schnell zählen.
BESCHWÖRUNG Sicherlich werden Filme mit in Deutschland und Österreich lebenden Jüdinnen und Juden gehypt, aber der Hype findet wie vor einer Glaswand statt. Das Jüdische ist trotz aller offiziösen Beteuerungen nie das Eigene, jüdische Kultur- und Bildungsinstitutionen außerhalb der jüdischen Gemeinden werden zumeist von Fachleuten nichtjüdischer Provenienz geleitet, pompös errichtete Bauten werden als Synagogen bezeichnet.
Doch sind sie in Orten, wo es kaum eine jüdische Bevölkerung gibt, nichts anderes als museale und mumifizierende Gebäude, Teile einer nostalgischen Beschwörung; denn nur lebendige Menschen und lebendige Riten machen ein Gebäude zur Synagoge. Einen Minjan von Gespenstern gibt es nur in Polanskis Tanz der Vampire.
Vieles ist, wie es in einer Beschreibung von Michal Bodemann vor Jahren hieß, »ein Gedächtnistheater«, Mimikry, eine Inszenierung anstelle kultureller humanistisch-jüdischer Lebendigkeit, das Jüdische auf einem Podest – und da kann man es auch leichter hinunter stürzen. Die zunehmenden Angriffe auf die wenigen Stätten jüdischen Lebens zeigen dies ja. Wir können den Jahrhunderte andauernden Prozess der Akkulturation und Integration in Deutschland und Österreich nicht künstlich als eine Art Potemkinsches Dorf wiederherstellen, als nostalgische Wohlfühlkultur zur Eingrenzung des schlechten Gewissens, wir haben keine Überlebensschuld abzutragen.
»DISSIMILATION« Mehr noch – aus jüdischer Perspektive verstärkt sich das, was Franz Rosenzweig als »Dissimilation« bezeichnete, ein Prozess, der uns als ein wesentliches Merkmal der Diaspora durch die Jahrtausende begleitete, das Eigene betonte, das Jüdische suchte, nicht nur im Religiösen. Dissimilation, also das Gegenteil von Assimilation (auch so ein biologistischer Begriff), ist immer auch jüdische Modernisierung. Rosenzweig beschrieb die Prozesse der Dissimilation vor der Schoa und bezog sich auf eine jüdische Renaissance seit der Wende zum 20. Jahrhundert.
Damit können das heutige jüdische Leben und die russisch-jüdische Mehrheit in manchen jüdischen Gemeinden allerdings nicht gleichgesetzt werden. Natürlich haben viele jüdische Gemeinden ein reichhaltiges kulturelles Leben, das sind Keime, doch die schaffen noch keine in der gesamten Gesellschaft verankerte deutsch-jüdische Kultur, wie sie die Generationen vor 1933 und vor 1938 kannten. Die Kultur der jüdischen Gemeinden strahlt aus, aber sie ersetzt nicht das Fehlen einer jüdischen Kulturszene, gemeinsamer Milieus, die heutigen geistigen Leerstellen, die es einst aufgrund der jüdischen Schriftsteller, Künstlerinnen und Künstler nicht gab.
Anders gesagt, die Verlage, Cafés, Cabarets, Redaktionen, in denen vor der Schoa deutsch-jüdische Kultur lebte, sich kontrovers, konservativ, liberal, sozialistisch, zionistisch entwickelte, bleiben eine Erinnerung. Ob das jüdische Gedächtnis für die heute auswandernden Kinder und Enkelkinder in Jahrzehnten von Bedeutung sein wird, vermag niemand zu sagen. Aber Schnitzel und Strudel haben in Israel und Teilen der USA auch überlebt.
Die entscheidende jüdische Modernisierung findet seit den 20er-Jahren nicht in Europa oder Nordamerika statt, sondern ist der soziale, kulturelle und wirtschaftliche Aufbau hin zum Staat Israel, seine Gründung und sein konfliktreiches Fortschreiten. Das bildet für die weltweite jüdische Bevölkerung seitdem ein unverzichtbares Lebenselement, und es sind vor allem die Werte und Perspektiven, wie sie in der Unabhängigkeitserklärung von 1948 festgehalten sind, auf die wir uns immer wieder besinnen können.
ANTISEMITISMUS Der israelbezogene Antisemitismus, wie es jetzt modisch heißt, wendet sich zunehmend überall in Europa nicht allein gegen aktuelle politische Gegebenheiten Israels, einzelne jüdische Persönlichkeiten, sondern gegen die jüdische Moderne an sich, ihre Werte, ihre Utopien und ihre gesellschaftlichen und institutionellen Realitäten.
Bei vielen Jüdinnen und Juden in deutschsprachigen Landen ändern sich die schon immer ambivalenten emotionalen Wahrnehmungen, was die gesellschaftliche Umwelt anbelangt. In den 60ern wurden die Koffer meist ausgepackt, vor allem von den nach 1950 in den Besatzungszonen verbliebenen jüdischen Überlebenden aus Osteuropa.
Wie Amos Oz einmal schrieb: Jüdische Kultur ist ihrem Wesen nach anarchisch.
Doch viele Koffer blieben auf dem Dachboden, und vorsichtshalber gab es ja den jüdischen Staat. Und der wurde zu einer emotionalen, geografischen und kulinarischen Option. Nehmen Nichtjuden Israel vor allem als Staat, fälschlich oft als Staat der Schoa-Überlebenden wahr, so ist er für die meisten deutschen und österreichischen Jüdinnen und Juden ein Teil der modernen jüdischen Akkulturation, eben Kultur, Essen, Freunde, Familie, Geschichte und potenzieller Wohnort – eine Selbstverständlichkeit, das Eigene, das Ich im Du, das es hierzulande seit 1933 nicht mehr gegeben hat.
NÄHE Banal gesagt, die jemenitischen, marokkanischen und äthiopischen Juden sind mir emotional näher als die diversen hiesigen deutsch-österreichischen Regionalkulturen, die ich rational sicherlich auch genießen kann, ohne gleich zu jodeln. Bloß wirkliche emotionale Nähe stellt sich da nicht ein; die Glaswand taucht schon in den nichtjüdischen Blicken auf.
Das Unausgesprochene, das stumm geflüsterte »typisch jüdisch«, mit dem wir täglich zu tun haben, kann man natürlich ignorieren, aber damit verschwindet es nicht. Und das ist nicht israelbezogen, sondern meint jede oder jeden, die oder der als Jüdin und Jude wahrgenommen wird.
Das permanente Jammern über Antisemitismus und Antisemiten hilft allerdings kaum, sie sind »built-in«, Teil der deutschen und österreichischen Kultur, eben Normalität und damit eine permanente jüdische Alltagserfahrung.
MISCHUNG Jüdische Kultur ist keine Interpretation einer Beethoven-Symphonie oder schlecht imitierte Klezmer-Musik, sondern eine Mischung aus Lewandowski, Mahler, Schofar und Darbuka, den jemenitisch-israelischen Geschwistern AWA, Leonard Cohen, Shoshana Damari, Yasmin Levy, Jalda Rebling, den Partisanenliedern von Hirsch Glick und der unbeantwortbaren Frage, ob Gefilte Fisch nun eher salzig oder süß sein sollte.
Wie Amos Oz einmal schrieb: Jüdische Kultur ist ihrem Wesen nach anarchisch. Dass dies auch in den Resten der europäischen Diaspora erinnert wird, dazu können wir beitragen. Allerdings hätte auch der Golem von Worms, der zurzeit in den alten Gemäuern über eine Wiederkehr grübelt, aktuell recht viel zu tun. Vielleicht beflügelt ihn ja, dass die SchUM-Städte Speyer, Worms und Mainz mit ihren über 1000 Jahre alten Traditionen zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt wurden. Jüdische Kultur als Erinnerung, und die wird hier lange andauern.
Der Autor ist Professor für Zeitgeschichte an der Universität Wien.