Interview

»Mikrofon der Seele«

Der Klarinettist Giora Feidman über Klesmer, Deutschland und Musik als Friedensbringer

von Philipp Peyman Engel  21.03.2011 14:23 Uhr

»Würde ich aufhören zu spielen, würde ich nicht lange überleben«: Giora Feidman Foto: Felix Broede

Der Klarinettist Giora Feidman über Klesmer, Deutschland und Musik als Friedensbringer

von Philipp Peyman Engel  21.03.2011 14:23 Uhr

Herr Feidman, Sie werden in diesen Tagen 75 und stehen immer noch mehr als 250 Tage im Jahr auf der Bühne …
… jetzt wollen Sie sicher von mir wissen, warum ich mir das in dem Alter noch antue (lacht). Ich gebe Ihnen die Antwort: Kennen Sie das Broken-Heart-Syndrom?

Nein, was ist das?
Wenn der Kummer eines Menschen zu groß wird, kommt es vor, dass er an einem Herzinfarkt stirbt. Das ist ein bekanntes Phänomen in der Medizin. Hörte ich jetzt auf, Klarinette zu spielen, ich würde es nicht lange überleben. Die Klarinette ist das Mikrofon meiner Seele, ein Medium, durch das ich ausdrücken kann, was ich fühle.

Sie könnten ohne Musik nicht leben?
Könnten Sie ohne Nahrung leben? Oder ohne Wasser? Musik gehört essenziell zum Leben dazu. Wenn ein Baby auf die Welt kommt, fängt es an zu schreien. Und was passiert dann? Gleichgültig, ob Jüdin, Christin oder Muslimin – die Mutter wird ihrem Baby etwas vorsingen, um es zu beruhigen. Das ist eine sehr tröstliche Beobachtung. Auch wenn ich feststelle, dass uns dieser Sinn für die Wichtigkeit der Musik immer mehr abhandenkommt.

Inwiefern das?
Die westlichen Gesellschaften sind fixiert auf materielle Güter. Jeder strebt ein möglichst komfortables Leben an. Darüber vergessen wir, was wirklich wichtig ist. Spirituell gesehen, sind wir bettelarm. In Indien oder Tibet sind die Menschen trotz ihrer Armut ungleich reicher als wir.

Und Sie wollen als Musiker diese Resonanz für spirituelle Kräfte wieder wecken?
Unbedingt. Ich spiele, um die Menschen mit spiritueller Nahrung zu versorgen. Jeder Mensch hat eine Gabe, die er der Gemeinschaft zur Verfügung stellen sollte. In meinem Fall ist das die Musik. Sie ist für meine Hörer im Idealfall ein Rettungsboot im Ozean der Banalität.

Sie sprechen auch oft vom »Königreich der Musik«. Was meinen Sie damit?
Ein Beispiel: Während des Jom-Kippur-Krieges habe ich in einem israelischen Krankenhaus Klarinette gespielt. Ein junger Araber wünschte sich ein Stück von Mozart, das ich zuvor für einen verwundeten israelischen Soldaten gespielt hatte. Beide waren auf dieselbe Art gerührt. Das ist das Königreich der Musik. In ihm wird alles überwunden, was einen normalerweise voneinander trennt.

Wie hat Ihre Liebe zur Musik begonnen?
Ich habe schon als kleiner Junge mit meinem Vater auf jüdischen Hochzeiten in Buenos Aires Klarinette gespielt. Sie müssen wissen, die Musik liegt meiner Familie im Blut. Bereits mein Urgroßvater, der aus Bessarabien stammte, spielte Klarinette bei Feiern der jüdischen Gemeinde. Mein Großvater und mein Vater waren ebenfalls Klesmermusiker. Ich habe das Musikerhandwerk an derselben Schule in Bukarest gelernt, die auch mein Vater besucht hatte.

Hat man Ihnen dort beigebracht, bei Konzerten nicht nur auf der Bühne zu stehen, sondern spielend durch den Saal zu gehen?
In gewisser Weise ja. Bei jüdischen Feiern war es üblich, als Musiker umherzugehen und das Publikum einzubinden. Ich empfinde die Trennung zwischen Künstler und Publikum als hinderlich für eine gute Konzertatmosphäre. Es wäre mir auch peinlich zu sagen: »Ich spiele Klarinette, Ihr zahlt und hört still zu.«

In Deutschland haben Sie mit die treuesten Fans. Welche Beziehung haben Sie zur Bundesrepublik?
Ich bin 1936 in Buenos Aires geboren. Sowohl mein Vater als auch meine Mutter verloren viele Familienmitglieder während der Schoa. Ich bin mit vielen grausamen Geschichten über die Deutschen aufgewachsen. Aus diesem Grund war es unfassbar hart, als ich 1967, nach dem Sechstagekrieg, zum ersten Mal nach Deutschland kam. Heute ist das ganz anders. Berlin ist inzwischen mein zweites Zuhause ...

... wo Sie am Freitag dieser Woche zu Ihrem 75. Geburtstag ein Jubiläumskonzert in der Philharmonie geben werden.
Das war eine bewusste Entscheidung. In Berlin wurde damals angeordnet, dass mein Volk getötet werden soll. 70 Jahre später leben Juden und Deutsche hier friedlich zusammen. Ich fühle mich wohl in Berlin, nicht obwohl ich Jude bin, sondern gerade, weil ich Jude bin. Es ist der beste Beweis dafür, dass trotz allem Frieden möglich ist.

Was wünschen Sie sich zum Geburtstag?
Dass die Deutschen und die Juden weiterhin ganz normal zusammenleben. Für Israel und die Palästinenser wünsche ich mir nichts sehnlicher als Frieden. Man muss sich dringender denn je zusammensetzen und eine Lösung finden.

Glauben Sie, dass Musik einen Beitrag dazu leisten kann?
Ich möchte mit einer wahren Geschichte antworten. Daniel Barenboim hat vor einiger Zeit in Ramallah ein Konzert gegeben. Man kann davon ausgehen, dass die Araber dem Juden Barenboim nicht gerade wohlgesonnen waren. Doch dann passierte während des Konzerts ein Wunder, das nur die Musik hervorbringen kann: Zwischen dem palästinensischen Publikum und Barenboim entstand Liebe. Die Antwort lautet also: Ja, Musik ist, wenn auch nur bedingt, in der Lage, Frieden zu stiften.

Das Gespräch führte Phillip Engel.

Giora Feidmans Memoiren »Du gehst, du sprichst, du singst, du tanzt« sind soeben im Pattloch Verlag, München, erschienen (296 S., 19,99 €).

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