Das Bühnenbild ist so karg wie genial. Eine Reihe von Fenstern, hinter denen sich Vorhänge bewegen, ohne das Dahinter preiszugeben. Rechts begrenzt das eigene Fenster den Raum, mit eigenem Vorhang. Zieht man ihn auf, ist aber doch nur das Spiegelbild zu sehen. Dann lieber den Vorhang wieder schließen. So sehr das Leben in der Bubble schmerzt, man kennt es wenigstens.
Michel Friedmans autobiografisches Buch Fremd, dieses perfekte Etwas zwischen Stream-of-Consciousness und Kotzstrahl, über das Aufwachsen als Kind von Schoa-Überlebenden im selbstvergessenen Wirtschaftswunder-Deutschland gibt es nun auch als Theaterstück. Die Premiere wurde am Schauspiel Hannover gefeiert. Am Anfang gab es eine Warteliste und am Ende Standing Ovations.
Satzteilketten aus freigefrästen Gedanken
Denn es wirkt, als seien Friedmans Satzteilketten aus freigefrästen Gedanken, die alles auslassen, was womöglich aus Trauma, Kalkül, und, ja, Angst, immer nur im Raum stehen durfte, schon immer für die Bühne gedacht gewesen. Über »die Deutschen, meine Familie und den 50-fachen Mord« – allein in Friedmans Familie.
»Ich bin auf einem Friedhof geboren, Mama und Papa waren Friedhofsverwalter, und ich war ihr jüngster Mitarbeiter«, beginnt es. Da sind die Eltern gerade von Frankreich nach Deutschland gezogen. Die polnischen Flüchtlinge, die schon nicht die Sprache des vorherigen Fluchtlandes sprechen konnten. Den »Schmerz, der keinen Anfang kennt und kein Ende« nehmen sie überallhin mit. Das Kind ist ihr »Lebensübersetzer«.
Das Kind ist ihr Ein und Alles, »trotzdem gab es Liebe, wirklich«, sagt die Mutter und erdrückt es damit. Warum sie es ausgerechnet ins Land der Mörder gebracht haben, versteht es nicht. Wundert sich über die »Scheinruhe«, darüber, dass alles so sauber ist, »aufgeräumt, weggeräumt«. Wo sind die Verrückten, die Monster? »Wieso waren all diese Menschen frei?«
Das Kind lernt, dass die »Zeugen der Zeit blind und taub sind«, dass es immer ein »Ihr« sein wird, nie ein »Teil des Wir«. Es will unbedingt dazugehören, quält sich, wird von anderen gequält, hat Panikattacken, Todesangst, will selbst den Schmerz, sogar den Tod. Will weg von den »Erinnerungsbetrügern«. Es bricht aus ihm heraus: »Nichts wird gut, alles geht weiter!«
Und plötzlich hallen die gesprochenen Worte über das Gestern im Heute. Zwei Monate nach dem 7. Oktober. »Erst Hass und Gewalt, dann Woooorte«, ruft die Mutter voll bitterem Zynismus. »Wie lange noch? Wie oft?« Stille.
Mutter, Vater, Sohn und Tochter
Mutter, Vater, Sohn und Tochter – exzellent gespielt von Stella Hilb, Max Landgrebe, Alban Mondschein und Christine Grant – sind gefangen in der Bubble des ewigen Fremdseins. Vier Menschen, doch ein Ich, das sich immer wieder aufspaltet, um dann wie Quecksilber ins Eins zurückzufinden.
Wenn Trauer und Schmerz zu groß werden, wandert und wechselt die Perspektive, dann folgt dem Schrei ein Lachen, dem Weinen Gesang. Das Timing der Inszenierung von Stephan Kimmig ist brillant, hat den Text so fest im Griff, dass 140 Minuten ohne Pause plötzlich vorbei sind.
Friedman ist sichtbar glücklich über die Inszenierung. Der Text sei allen gewidmet, die sich fremd fühlen, allen Migranten, die versuchen, ein Leben zu finden. Die aber um die »Risse im Fundament« wissen, darum, dass »das Urvertrauen eine furchtbare Illusion« ist. Nach dem tosenden Applaus dann dieser zärtliche Augenblick, wenn der Regisseur Friedman an der Hand mit von der Bühne nimmt. Bis zur nächsten Aufführung. Sophie Albers Ben Chamo
Nächste Vorstellungen: 13. Dezember sowie 16. und 27. Januar