Anmerkung der Redaktion (2. August 2023):
Als dieser Text von Fabian Wolff in der Jüdischen Allgemeinen erschien, glaubte die Redaktion Wolffs Auskunft, er sei Jude. Inzwischen hat sich Wolffs Behauptung als unwahr herausgestellt.
Lenny Bruce meinte einst, dass jeder, der in New York lebt, egal ob Ire oder schwarz, automatisch Jude ist. Umgekehrt könnte man auch sagen, dass jeder intellektuelle Jude urban ist. Das jüdische geistige Leben im 20. Jahrhundert war in den großen Städten beheimatet. Drei Neuerscheinungen des Frühjahrs begeben sich in europäische und amerikanische Metropolen und erzählen vom Leben ihrer jüdischen Autoren dort.
berlin Franz Hessel (1880–1941) ist als Autor heute eher aus zweiter Hand bekannt – weil er das Vorbild für Jules in Truffauts Jules et Jim war, weil er für Walter Benjamin der ideale Flaneur war, weil sein Sohn Stéphane sich als Empörungskünstler profiliert. Tatsächlich war Hessel der Alfred Polgar von Berlin, vielleicht sogar ein kleiner Proust. Heimliches Berlin, ein schmaler Roman von 1927, ist laut dem Nachwort der Neuausgabe im Lilienfeld-Verlag Hessels »vollkommenste Dichtung«.
Das Buch ist eine schöne und traurige Liebesgeschichte um den Intellektuellen Kestner, seine Partnerin Karola, den eitlen Adeligen Wendelin – eine Art Berliner Reigen. Tatsächlich schrieb Hessel mit dem Roman gegen eine Krise in seinem eigenen Eheleben an: Kestner ist Hessel, Karola ist seine Frau Helen Grund, Konkurrent Wendelin ist der Dichter Thankmar von Münchhausen. Im Buch geht Wendelin durch sein Zaudern unter und lässt Kestner triumphieren. Im realen Leben blieb die Ehe zwischen Hessel und Grund angespannt bestehen.
Das gibt der Geschichte eine zusätzliche Melancholie. Und natürlich ist Heimliches Berlin auch ein Blick in ein vergangenes Berlin, diesmal fernab von Charlottengrad und Scheunenviertel.
paris Wer ihn nicht genau kennt, könnte Georges Perec (1936–1982) für einen Clown der Hochliteratur halten. Oft wird der Autor, Mitglied der surrealistischen »OuLiPo«, auf stilistische Fingerübungen und Sprachwitze reduziert. So verzichtet Perec in seinem Roman Anton Voyls Fortgang gänzlich auf den Buchstaben E. Hinter dem vermeintlichen Scherz verbirgt sich jedoch mehr.
So bemerkte ein Kritiker, dass man ohne das »e« auch nicht die Worte »mère« – Mutter, »père« – Vater, »vie«– Leben und schließlich »Perec« schreiben kann. Perecs Eltern waren nach Frankreich emigrierte polnische Juden, sein Vater starb als Soldat der französischen Armee, die Mutter vermutlich in Auschwitz. Die Erinnerung an diese Lücke zieht sich durch das Gesamtwerk des Autors.
Perecs Bücher sind in Deutschland größtenteils nicht lieferbar. W oder die Kindheitserinnerung, nach 30 Jahren jetzt endlich wieder aufgelegt, könnte der Anfang einer umfangreichen Wiederveröffentlichung sein. Das Buch besteht aus zwei Teilen. Perec versucht, Bilder aus seiner Kindheit zu greifen. Zum Beispiel, wie er zur Verzückung seiner Verwandten einen hebräischen Buchstaben erkennt, dessen Name »Gammeth oder Gammel« war.
Dieser Strang wechselt sich ab mit einem Bericht von der Insel »W«, auf den ersten Blick eine Art spätantikes Utopia. Tatsächlich ist »W« ein Vernichtungslager. Das suggeriert bereits der Titel: Im französischen »Double-vé« für »W« klingt »double vie« – Doppelleben an. Perec schrieb die Geschichte von »W« im Alter von 13 Jahren.
london – New York Der britische Historiker Tony Judt (1948–2010) beschreibt in Das Chalet der Erinnerungen seine Kindheit in London als Sohn osteuropäischer Immigranten, seine Jugend in zionistischen Organisationen und die spätere Kibbuz-Des-illusion sowie einzelne Etappen seiner akademischen Karriere. Es ist das vorletzte Werk Judts, der 2010 an der degenerativen Nervenkrankheit ALS starb.
Er verlor in kurzer Zeit erst die Fähigkeit, sich zu bewegen, dann auch zu sprechen. So ist eine große unausgesprochene Wehmut im Chalet immer dann spürbar, wo es um Alltag geht, um die grünen Busse, mit denen Judt als Kind durch London fuhr, oder seine Gänge durch das multi-ethnische New York zwischen italienischen Barbieren, arabischen Imbissen und russischen Reinigungen: »Heute bringe ich meine Wäsche zu Joseph, und dann ergehen wir uns in jiddischen Ausdrucken.« Bringe, im Präsens.
Doch Judt will keine einseifenden Geschichten darüber erzählen, wie schön als Kind die Blumen gerochen haben. Er hat noch einiges zum geistigen Leben der Gegenwart zu sagen. Slavoj Zizek nennt er »rhetorisch inkontinent« und verpasst bei der Gelegenheit auch noch gleich Antonio Negri einen Schlag.
Vor allem zeigt er, dass Erinnerung nicht verschwendet werden sollte. In den letzten beiden Kapiteln vor dem Epilog beschäftigt Judt sich mit dem Judentum und seiner eigenen jüdischen Identität. Er beklagt einen Missbrauch der Vergangenheit zur »larmoyanten Selbstbespiegelung« und stellt kritisch fest: »Judesein heißt vor allem, sich daran zu erinnern, was es einmal hieß, Jude zu sein.« Judt aber genügt das nicht: »Es reicht nicht, die Konventionen anderer Leute zu verwerfen, wir müssen auch die unnachsichtigen Kritiker unserer selbst sein.«
Das Chalet der Erinnerungen ist kein großes Buch, schon aufgrund seiner Entstehungsgeschichte, aber ein wichtiges, weil es einem bedeutenden jüdischen Denker die Gelegenheit für ein paar letzte persönliche und häufig angenehm unversöhnliche Worte gibt.
Franz Hessel: »Heimliches Berlin«. Lilienfeld, Düsseldorf 2012, 152 S., 18,90 €
Georges Perec: »W oder die Kindheitserinnerung«. Übersetzt von Eugen Helmlé. diaphanes, Zürich 2012, 176 S., 12 €
Tony Judt: »Das Chalet der Erinnerungen«. Übersetzt von Matthias Fienbork. Hanser, München 2012, 224 S., 18,90 €