Es ist nicht leicht, ein Jude zu sein. Selbst wenn man nicht religiös ist, wird man den Glauben niemals wirklich los. Diese Erfahrung muss auch Alexander Popper in Peter Orners neuem Roman Liebe und Scham und Liebe machen. Als Spross einer jüdischen Mittelstandsfamilie wächst er in Chicago auf.
»Die Bürger dieser Stadt könnten ein Pogrom nicht von der Parade am St. Patrick’s Day unterscheiden«, sagt ihm der Richter, zu dem Popper zum Zwecke der Mannwerdung geschickt wird, ist die Barmizwa in seiner Familie doch Nebensache und wird nicht in der Synagoge gefeiert. »Vergiss Moses«, rät ihm der Richter, »Adieu, Abe. Deine Tage sind gezählt. Das waren gute Geschichten, gute Männer. Aber dies, mein Sohn, ist Chicago.«
fürze Die äußeren Verhältnisse sind eine Sache. Etwas ganz anderes ist das Innenleben. Als Nachfahren osteuropäischer Juden, die in den 20er-Jahren in die USA eingewandert waren, fühlen die Poppers immerzu eine Art Scham, ein Minderwertigkeitsgefühl. Kein Zufall, dass mit Alexander schon die zweite Generation der Familie den Anwaltsberuf ergreift: Haben sie sich unter Schuldigen doch immer am wohlsten gefühlt.
Anders bei der vornehmen Familie Rosencrantz, die kurz vor dem Bürgerkrieg aus Deutschland kam. Jedes ihrer Kinder spielt ein anderes Instrument, und ist Besuch zum Abendessen eingeladen, muss er fürchten, dass gleich ein Rosencrantz-Spross aufsteht und eine Arie schmettert. So etwas ist den Poppers fremd.
Unaufdringlich, leicht und mit jeder Menge Selbstironie erzählt der 1968 in Chicago geborene Peter Orner von den Beschädigungen einer jüdischen Mittelstandsfamilie in seiner Heimatstadt. Dabei wird er mitunter bitterböse. Zum Beispiel, wenn er den dicken Mister Pomerantz beschreibt, der als Junge Buchenwald überlebt hat. Deswegen schicken die jüdischen Familien ihre Kinder zu dem einsamen älteren Herrn, der ihnen von seinen schrecklichen Erlebnissen erzählen soll – gegen das Vergessen. Sogar seine Fürze klingen wie Seufzer. Alexanders Bruder Leo behauptet, Mister Pomerantz habe die Schoa nur überlebt, »weil die Nazis nicht begreifen konnten, dass ein verhungernder Jude so fett war. Er war ein Phänomen, und deswegen ließen sie ihn am Leben.«
verrückte Mit Liebe und Scham und Liebe, das in den USA 2011 herauskam und in der wunderbar lockeren Übersetzung von Henning Ahrens jetzt in Deutschland erschienen ist, legt Peter Orner, der für seinen Erzählungsband Esther Stories (2001) den Samuel Goldberg Prize for Jewish Fiction bekam, seinen zweiten Roman vor. Wie schon beim ersten, Die Wiederkehr der Mavala Shikongo (2006), handelt es sich dabei nicht um eine konventionell erzählte Geschichte.
Peter Orner ist kein epischer Erzähler, er entwickelt keine stringente Handlung, sondern wirft in kurzen Episoden Schlaglichter auf die Familie Popper – Alexander und dessen Bruder Leo, ihre Eltern Miriam und Philipp sowie Großmutter Bernice und Opa Seymour, den Leser Peter Orners schon aus dessen Erzählung The Raft kennen. Wie bei einem Puzzle muss der Leser die einzelnen Teile zusammensetzen, damit sich ein Gesamtbild ergibt. Sind es, wie der Autor in einem Interview einmal sagte, doch die »verrückten Momente«, die aus dem Leben eine Geschichte werden lassen.
Sicher hätte sich die ein oder andere Episode streichen, der Roman insgesamt ein wenig kürzen lassen, ohne an Qualität einzubüßen. Darüber aber sieht der Leser gerne hinweg, ist dieser Alex Popper doch einfach zu komisch. Er kann aus seiner jüdischen Haut nicht heraus. Sogar im Baseballstadion nimmt er die Menge wie einen »Naziaufmarsch« wahr.
Beim Skifahren am Wilmot Mountain kommen ihm die schweren Skistiefel wie Bleigewichte vor, und er fühlt sich wie im »Gulag des Mittleren Westens«. Selbst in der Umkleidekabine zieht der Romanheld wortwörtlich den Kürzeren. Wirkt der Penis seines Schulkameraden doch größer, weil er nicht beschnitten ist. Es ist nicht leicht, ein Jude zu sein.
Peter Orner: »Liebe und Scham und Liebe«. Übersetzt von Henning Ahrens. Hanser, München 2014, 400 S. ›21,90 €