Was für eine Ehre – und zwar für die ehrwürdige Bibliothek Suhrkamp, die nun auch Wolf Biermann in ihren Reihen begrüßen darf. Der nach wie vor verblüffend vitale Dichter wird am 15. November geradezu unglaubliche 85 Jahre alt und hat aus diesem Anlass sich und den Lesern ein Buch-Geschenk gemacht, das den Titel Mensch Gott! trägt.
Wer hier nun freilich Goldrand, Jubiläums-Pathos, Ohrensessel-Weisheiten oder gar Hybris vermutet, kennt Biermann schlecht. Der Band, der eminent frisch und haltbar gebliebene Lieder und Gedichte aus den letzten 50 Jahren und essayistische Einschübe aus der jüngsten Zeit versammelt, ist nämlich alles andere als in sich gerundete Lebens(rück)-Schau, sondern voll unerwarteter Ecken und funkelnder Splitter und Kanten, melodisch im Balladenstil, vorangetragen von rhythmischer Prosa und vor allem: keineswegs harmonisierend.
BACH Trotz des womöglich als allzu ankumpelnd missverständlichen Titels Mensch Gott! schreibt hier jedoch kein atheistischer Krawallbruder, sondern einer, der ebenso Poet (und erklärter Bach-Fan) ist wie feinnerviger Intellektueller: »An welchen Gott, egal welcher Konfession ein Menschenkind glaubt, das soll mich nicht von ihm trennen. Und wenn ich so einen Frommen treffe, der das Markenzeichen seiner Firma demonstrativ vor sich herträgt, dann argwöhne ich skeptisches Lästermaul automatisch: Hoffentlich glaubt dieser Mensch wirklich an seinen auserwählten Gott!«
Sein Glaube an die Illusion des Kommunismus hat den Sänger in der Zeit des Verbots gestärkt.
Denn nein, Biermann macht sich keineswegs lustig über den Glauben, hat er einen solchen doch in säkularisierter Variante lange Zeit selbst in sich getragen – als 1936 in Hamburg Geborener, dessen kommunistischer Vater als Jude im KZ Auschwitz ermordet wurde, worauf späterhin 1953 der Sohn in die DDR ging, um jene gerechtere Gesellschaft mit aufzubauen, auf die der Vater kämpfend gehofft hatte.
desillusionierung Was dann folgte – augenöffnende Desillusionierung, ab 1965 Veröffentlichungs- und Auftrittsverbot, die Ost-Berliner Dissidenten-Existenz und schließlich die Ausbürgerung aus der DDR im November 1976 –, ist quasi bereits zu einem eigenen Geschichtskapitel geworden. In Biermanns jetzigen Reflexionen (die das gefällige Wort »Dialektik« vermeiden) bekommt nun dieses hoch-komplexe Über- und Ineinander von Glauben und Glaubensverlust, von fatalen, jedoch auch rettenden Illusionen noch einmal eine ganz besondere Intensität.
»Der Erkenntnisprozess war kompliziert und so überschwer, wie meines Vaters Vorbild wog in meinem Herzen. Ihn wollte ich nicht verraten. Diesen Toten wollte ich nicht töten … Und ohne meinen Glauben an die heilige Kuh Kommunismus hätte ich den Streit mit den Bonzen der Partei kaum durchgehalten. In den elf Jahren meines Totalverbots hat mein Glaube, der eine Illusion war, mich gestärkt. Marx ermutigte mich zum Widerstand gegen unsere Unterdrücker«, so Biermann.
Und danach, nach dem Glaubensverlust? Biermann findet Inspiration bei Alexander Pope, dessen berühmte Zeilen aus dem »Essay on Man« er auf seine eigene, unnachahmliche Weise nachdichtet: »Krieg raus, wer du bist! und/ schnüffel nicht Gott hinterher!/ denn das, was die Menschheit ist/ begreifst du am besten an dir.« Verblüffend auch seine Beschäftigung mit dem biblischen Kontext – und das bereits zu einer Zeit, als er selbst noch an die Möglichkeit eines irdischen Paradieses geglaubt hatte.
»BIBEL-BALLADE« Da er zu DDR-Zeiten ja nicht nur jene längst legendär gewordene (und von so manch politischem Häftling leise in der Zelle gesungene) »Ermutigung« geschrieben hatte, sondern auch eine »Bibel-Ballade«, die Anleihen nimmt am Buch Kohelet und den Klagen des Propheten Micha – suggestive Anrufungen an und auch wider Gott angesichts all des Unrechts auf Erden.
Der »Rotgefärbte Tatsachenbericht vom wahren Leben und Tod des Jesus Christus« von 1975 liest sich indessen, als hätte sich 13 Jahre später davon Martin Scorsese in der Letzten Versuchung Christi inspirieren lassen.
Überhaupt jener Rabbi Jeschua aus Nazareth, den Biermann ob seines Revoltierens so schätzt: »Ich werde niemals für wahr halten, dass er am Kreuz ein Welterlöser war. Weiß Gott, die Welt sähe anders aus! Aber auch auf den herbeigesehnten Messias der orthodoxen Juden möchte ich Judenkind meine kurze Zeit auf Erden nicht verwarten.«
STAMMBUCH Doch stattdessen? Irdischen Göttern, ergo: Diktatoren-Drachen und dogmatischen Gläubigen (wozu mitunter auch eifernde Atheisten zählen) treffende Verse ins Stammbuch, Selbst-Ermutigungen »im ewigen Freiheitskrieg der Menschheit« – und Lieder wie jener geradezu Heinrich Heine’sche »Hanseatische Kinderkatechismus für Mollie«, für die jüngste Tochter gedichtet und en passant ein nicht gerade kleines Rätsel lösend.
Wolf Biermann dichtete Alexander Pope nach: »Krieg raus, wer du bist! und schnüffel nicht Gott hinterher!«
Denn was wäre, wenn nicht Gott die Menschen erschaffen hätte, sondern es gerade umgekehrt zugegangen wäre, um – im besten Fall – so etwas wie Ethik zu begründen? »Auch nach seiner Schöpfung vor fünftausend Jahrn/ Hat Gott noch ein paar kleinere Wunder vollbracht/ Das größte Wunder bei Gott allerdings/ Das ist er selber! Und wer hat’s gemacht?/ Ich sag dir’n Geheimnis, mein liebstes Kind/ Behalt es für dich, denn Gottgläubige sind/ In diesem Punkte ohne Humor/ Deine Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Mame hat/ Den Gott der Juden und Christen erdacht.« Will heißen: Verantwortlich sind wir vor allem gegenüber uns selbst und unseren Mitmenschen, dem Mit-Mentsch.
Und so schreibt Biermann: »Der Titel dieses Buches könnte also auch mit einem Buchstaben korrigiert heißen: ›Mentsch Gott!‹ – und das wäre dann ein rebellisch jiddisch-kategorischer Imperativ gegenüber Gott: Sei mir gefälligst vor allem das: Gott, sei uns a Mentsch! a Mentsch!«
Mentsch Wolf! Was für ein Leben, was für ein Werk. Alles Gute zum Geburtstag und Mazal Tov!
Wolf Biermann: »Mensch Gott!«. Suhrkamp, Berlin 2021, 192 S., 22 €