Der Tod von Yehuda Bauer ist von vielen Nachrufen begleitet, von Erinnerungen und Würdigungen. Ganz erfassen dürfte die Person und das Phänomen Yehuda Bauer keiner von ihnen. Der Versuch, diesem Giganten der Holocaustforschung gerecht zu werden, kann nur zum Scheitern verurteilt sein. Ich will ihn deswegen erst gar nicht unternehmen, denn mir fehlen schlicht die Worte.
Fast hätte es Yehuda Bauer nicht gegeben. Mit 13 entkam er nur knapp dem Holocaust. Am 15. März 1939, dem Tag der Besetzung seiner Heimat durch die Nationalsozialisten (»Zerschlagung der Rest-Tschechei« nannte man das damals) saß er mit seiner Familie im Zug Richtung Polen, um von dort aus nach Palästina zu emigrieren.
Und obwohl er keine persönlichen Erfahrungen mit der Schoah hatte (oder vielleicht auch deswegen), wurde er zu einem der stärksten Analytiker und Kenner des Holocaust. Kaum einer konnte besser beschreiben, welche menschlichen Abgründe dazu geführt hatten, dass sechs Millionen Juden ermordet wurden.
Yehuda Bauer erkannte die Bestie im Menschen, er nannte diese Bestie mit scharfem Intellekt und klarer Sprache beim Namen. Er wird in Erinnerung bleiben als ein wortgewaltiger, ein scharfäugiger Beobachter des Weltgeschehens und der Conditio humana.
Meine erste Begegnung mit Yehuda Bauer liegt fast ein Vierteljahrhundert zurück, verursacht aber immer noch Gänsehaut. Es war im Jahr 2000, beim Internationalen Holocaust-Forum in Stockholm, als ich ihn das erste Mal erleben durfte.
Einen Mann kennenzulernen, dem schon damals ein großer Ruf vorauseilte, erfüllte mich mit einem Gefühl der Ehrfurcht. Fünf Jahre zuvor hatte ich als Generalsekretärin den Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus übernommen, war also gewissermaßen noch ein Neuling im Bereich der Holocaust-Aufarbeitung, und ich traf in Stockholm auf einen, dessen Wissen in diesem Bereich unvergleichlich war.
Umso beeindruckender war es für mich, dass mir Yehuda in den darauffolgenden Jahren bis zu seinem Tod mir zum Mentor wurde. Ich konnte mich frei und ohne Vorbehalte mit ihm austauschen. In Diskussionen begegnete er seinem Gegenüber mit immer mit Aufmerksamkeit und Respekt. Als besonderes Glück empfand ich es, dass er mir schließlich auch zu einem guten Freund wurde.
Was Yehuda Bauer im Gegensatz zu anderen Historiker:innen auszeichnete, war seine klare und zugleich bildhafte Sprache. Er vermochte sein Wissen so eindrucksvoll zu vermitteln, dass viele seiner Sätze als Zitate und Aphorismen für sich allein bestehen könnten, als monumentale Fragmente, die das große Ganze seines Denkens in sich tragen.
Als Annäherung an den Verstorbenen möchte ich drei seiner Dicta wählen, die den Menschen Yehuda Bauer und sein Denken besonders gut veranschaulichen:
»Der Holocaust ist ohne Beispiel, aber nicht einzigartig. Wäre er einzigartig, könnten wir ihn vergessen, weil er nur einmal geschehen könnte. Aber er könnte wieder geschehen. Wir sind hier, weil wir das verhindern wollen.«
Als Begründer und akademischer Berater der IHRA, der International Holocaust Remembrance Alliance, hat Yehuda Bauer bei jeder Plenartagung eine seiner berühmten Predigten gehalten. Immer und immer wieder hat er den anwesenden Vertretern der IHRA-Mitgliedsstaaten klar gemacht, dass jeder von uns dafür verantwortlich ist, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Dies war im besten Sinne sein Ceterum censeo.
»Antisemitismus ist kein jüdisches Problem. Er ist ein Problem für alle Gesellschaften, in denen er vorkommt.«
Ein Befund, der schaudern lässt, weil er angesichts der gegenwärtigen Lage der Welt - besonders nach dem 7. Oktober so traurige Bestätigung erfährt. Yehuda Bauer hat ihn meist anhand einer bestechenden Rechnung veranschaulicht: Von den insgesamt etwa 60 Millionen Toten des Zweiten Weltkriegs waren ungefähr sechs Millionen Juden. Folglich hat der Antisemitismus 54 Millionen nichtjüdischen Menschen das Leben gekostet, denn Antisemitismus war die Triebfeder der Nazis. Die Lehre daraus war für ihn: Antisemitismus geht uns alle an, Juden wie Nichtjuden.
»Das Grauen des Holocaust besteht nicht darin, dass man von menschlichen Normen abwich. Das Grauen besteht darin, dass man es nicht tat.«
Mit Sätzen wie diesem hat uns Yehuda Bauer die Ambivalenz der menschlichen Natur aufgezeigt. Zu verstehen, dass die Fähigkeit zum Unmenschlichen ein Teil der menschlichen Natur ist, ist eine wichtige Voraussetzung, diese Verirrungen vermeiden zu lernen. Dies war für mich eine von Yehudas wichtigsten Aussagen: Die meisten von uns sind weder ganz gut noch ganz schlecht. Die meisten unter uns sind irgendwo dazwischen.
Yehuda Bauer war ein Meister des Geschichtenerzählens. Sein Humor war legendär. Er wird mir ebenso in Erinnerung bleiben wie sein wunderschönes Prager Hochdeutsch, das man schon jetzt kaum mehr zu hören bekommt und das womöglich bald nicht mehr existieren wird.
Mit Yehuda Bauer hat die Welt einen großen Lehrmeister verloren. Einen, der unsere Generation geprägt hat, der einen klaren moralischen Kompass hatte, der Mentor und Freund war. Vor allem war er aber, wie man im Jiddischen so schön sagt - ein »Mentsch«.
Ein großer Geist ist nicht mehr. Doch seine Gedanken, seine Sprache, die Essenz seines Wirkens, sie leben in vielen Menschen weiter. Vielleicht gibt uns das Hoffnung für die Zukunft.
Möge die Erinnerung an Yehuda Bauer ein Segen sein und ein Appell, sein Vermächtnis zu ehren.
Die Autorin ist Vorständin des Nationalfonds der Republik Österreich.