Eines Abends steht Ruth im Wohnzimmer ihres Vaters. Ungebeten, unerwartet steht sie dort, die Israelin Ruth, vor ihrem Vater Abraham in Deutschland. Sie ist auf der Flucht, das sieht man ihr an, doch wovor, verrät sie weder ihrem Vater noch dessen Partnerin. Es scheint, als sei sie nur gekommen, um sich mit beiden anzulegen – mit Abraham, dem frommen Juden, und Sabine, der Deutschen. Ein Streit beginnt, der kaum etwas auslässt: Es geht um Religion, Herkunft, Vergangenheit und Schuld.
Zwischen den Welten heißt das Stück, das die in Israel sehr bekannte Schauspielerin und Autorin Sara von Schwarze geschrieben hat und in dem sie die Hauptrolle spielt. Am 27. September feierte das Stück – eine Kooperation mit dem Cameri-Theater in Tel Aviv – im Alten Schauspielhaus in Stuttgart seine Uraufführung. Gesprochen wird Deutsch und, wenn Vater und Tochter unter sich bleiben wollen, Hebräisch. Nicht alles, aber vieles in dem Stück ist autobiografisch, von Schwarze spielt eine extremere Version von sich selbst.
Fixe Idee Dank Ruth muss Sabine (gespielt von Cornelia Heyse) an diesem Abend viel Neues über ihren Partner lernen. Abraham (Wolfgang Hinze) heißt eigentlich Ernst, ist der Sohn protestantischer Eltern und erst als Erwachsener zum Judentum übergetreten. Mit Frau und Kindern zog er damals nach Israel, verließ jedoch die Familie und kehrte nach Deutschland zurück – als Jude. Sabine ist gründlich erschüttert. Plötzlich ist seine ganze Religion nur noch »Getue«, eine »fixe Idee«. Andererseits: »Dass er Deutscher ist, macht es für mich leichter, mit der Vergangenheit klarzukommen.«
Die Vergangenheit, das ist plötzlich eine, die alle drei teilen. Plötzlich lebt Sabine nicht mehr zusammen mit Abraham, dem Kind von Holocaust-Opfern, sondern mit Ernst, dem Kind von Nazis. Ruth hat mit dieser Vergangenheit die größten Probleme. Als Kind von Deutschen in Israel aufgewachsen, fehlt ihr eine echte Herkunft. Sie ist »ein Mensch ohne Wurzeln«, hin- und hergerissen zwischen den Schuldgefühlen der Deutschen und der Angst der Israelis. Als sie erfährt, dass ihr Urgroßvater sich 1943 das Leben nahm, vermutlich, um seine jüdische Herkunft zu verbergen und damit seine Familie zu schützen, scheinen die Schuldgefühle plötzlich unnötig gewesen zu sein.
Religion Die 1968 in Deutschland geborene Sara von Schwarze teilt Ruths Geschichte in diesem Punkt. Auch ihr Urgroßvater war möglicherweise nicht altkatholisch, sondern jüdisch. Auch ihre Eltern zogen Ende der 60er-Jahre als Konvertiten nach Israel. Wirklich zu Hause fühlt sie sich weder hier noch dort. »Ich gehöre zu einer neuen Nation, ich bin ein Migrantenkind«, sagt sie. »Wir haben keine Loyalität einem Staat gegenüber, aber wir versuchen, sie zu entwickeln.« Auch mit dem Glauben ist sie nicht streng: »Ich bin ein gläubiger Mensch, aber ich habe keine richtige Religion.«
Ruth ist wie ihr reales Vorbild sehr kritisch in Religionsfragen. Ihren Sohn beschneiden lassen: niemals. Das Sandwich, das ihr Vater ihr machen soll: mit Schinken, möglichst nicht koscher. Die Frau im Judentum: »tüchtig«, aber ein Mensch zweiter Klasse.
Das Stück ist dicht gepackt mit den großen Themen. Es wirft nicht nur persönliche und historische, sondern auch aktuelle politische Fragen auf, als Ruth schildert, wie sie möglicherweise einen jüdischen Soldaten erschossen hat, um einen Palästinenserjungen zu schützen.
Wunder Um dieses Stück so auf die Bühne zu bringen, findet Tibor Shalev Schlosser, brauche man Mut. Der israelische Generalkonsul war aus München angereist. Er betonte vor allem die Symbolkraft der Kooperation zwischen dem Stuttgarter Schauspielhaus und dem Theater in Tel Aviv, wo das Stück im Dezember aufgeführt wird – ebenfalls zweisprachig, doch mit einem höheren Hebräisch-Anteil. »Ist diese starke Freundschaft zwischen Deutschland und Israel nicht ein Wunder?«, fragt Schlosser. »Und dieses Stück ist ein kultureller und persönlicher Beitrag zu diesem Wunder.«
Die deutsch-jüdische Freundschaft im Stück muss dank Ruths Temperament zunächst einiges aushalten. Sara von Schwarze spielt die wütende, ängstliche Frau intensiv, man nimmt ihr ihre Zerrissenheit selbstverständlich ab. Auch wenn die Pazifistin von Schwarze nie jemanden erschießen würde, auch wenn sie ihren Vater viel mehr liebt, als Ruth ihrem Vater zeigen will: Die Geschichte im Hintergrund ist dieselbe.
Die beiden anderen Figuren sind freier an die echten Vorbilder angelehnt als Ruth. Sabine heißt in Wirklichkeit Silvia Götz und hat wenig mit der Frau auf der Bühne gemein. »Ich bin am ehesten von uns dreien eine Kunstfigur«, sagte sie. Auch Gershom von Schwarze, Saras Vater, sieht die Notwendigkeit, die Charaktere zugunsten der Dramaturgie ein wenig kantiger zu zeichnen: »Ich erkenne mich in dem Stück so wenig wieder, wie Silvia sich erkennt. Aber kennen Sie Picassos Porträt von Dora Maar? Sie wird sich auch nicht wiedererkannt haben. Und doch ist das Werk große Kunst.«
Sara von Schwarze: »Zwischen den Welten«. Inszenierung: Manfred Langner. Mit Sara von Schwarze, Cornelia Heyse, Wolfgang Hinze. Noch bis 3. November im Alten Schauspielhaus Stuttgart