Abraham B. Jehoschua

Meister und Mentsch

Abraham B. Jehoschua wurde am 9. Dezember 1936 in Jerusalem geboren. Am 14. Juni 2022 starb der israelische Erfolgsautor in Tel Aviv. Foto: picture alliance / NurPhoto

Der Termin stand schon fest: Abraham B. Jehoschua – von Freunden und Kollegen »Bulli« genannt – sollte 2019 endlich, nach vielen Jahren, wieder nach Deutschland kommen. Wir hatten vor, in Stuttgart seinen neuen Roman Der Tunnel vorzustellen.

Denn obzwar seit den 90er-Jahren mehr als 15 seiner Bücher – Romane und Erzählungen – in deutscher Übersetzung erschienen sind, ist Jehoschua bei deutschen Lesern dennoch längst nicht so bekannt wie beispielsweise in Italien. In Deutschland hat er nicht dieselbe Bekanntheit wie Amos Oz oder David Grossman erlangt.

»FINALE« Die geplante Lesereise musste er damals zu seinem großen Bedauern kurzfristig absagen. Die Ärzte hätten Krebs diagnostiziert, er sei in onkologischer Behandlung, schrieb er mir: »Ich beneide die Toten. Ich beneide so viele Freunde und selbstverständlich meine Frau« (die 2016 verstorbene Rivka, Psychoanalytikerin von Beruf). Diesen Satz wiederholte er immer wieder. Das erwartete schwere »Finale«, wie er es nannte, blieb ihm nicht erspart. Gleichwohl hörte er nicht auf zu schreiben.

Seine Werke zählen zum Kanon der hebräischen Literatur.

In seinen beiden letzten Romanen – eher Novellen – geht es um ethnisch-religiöse Identität: Die Italienerin Rachele Luzzato in Die einzige Tochter bereitet sich auf ihre Batmizwa-Feier vor, soll aber nach Wunsch ihrer Lehrer die Rolle der Maria im Krippenspiel übernehmen (eine englische Übersetzung erscheint unter dem Titel The Only Daughter in diesen Tagen).

In seinem letzten Werk, Der Dritte Tempel (erst vor zwei Monaten auf Hebräisch erschienen!), begegnen wir Aliza Azoulai, einer Jüdin mit »katholischen Genen« (von ihrer französischen Mutter), die ihre traurige Liebesgeschichte zu David Mashiach, dem Rabbiner ihres Vertrauens, erzählt.

identität Von der verwirrenden Komplexität der jüdischen Identität, diesmal im nationalen Kontext, genauer gesagt der Frage der Bi-Nationalität in Israel, handelt sein letzter, auf Englisch verfasster Aufsatz »Fusion or Weld«, der Anfang 2022 in einer deutschen Festschrift in einem Heidelberger Verlag erschienen ist.

1936 in Jerusalem geboren, in dritter Generation einer sefardischen Familie, die ursprünglich aus Thessaloniki stammte, zählt Jehoschua in der hebräischen Literatur zur sogenannten Generation des Staates neben Amos Oz und Jehuda Amichai. Während die aus Marokko stammende Mutter den Wunsch hegte, sich »dem Herzen des Landes, der zionistisch-aschkenasischen Welt anzuschließen«, war der Vater der traditionellen, sefardischen Welt Jerusalems eng verbunden.

Nach dem Abitur am renommierten Rechavia-Gymnasium diente Jehoschua in einer israelischen Fallschirmjäger-Brigade und kämpfte im Sinai-Feldzug (1956). An der Hebräischen Universität in Jerusalem studierte er Literatur und Philosophie, wurde zunächst Gymnasiallehrer und ab 1972 Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft und Hebräische Literatur an der Universität Haifa, wo wir uns häufiger trafen.

WERDEGANG 1963 erschien der erste Band seiner Erzählungen. Es folgten Romane, Erzählbände, Kinderbücher, Theaterstücke (bekannt ist vor allem Eine Nacht im Mai) und nicht zuletzt Sachbücher. Zu Letzteren gehören die fünf Essays zu Fragen des Zionismus, die in dem frühen Band Bi-Zchut ha-Normaliyut (1980, »Dank der Normalität«; auf Deutsch: Exil der Juden. Eine neurotische Lösung?, 1986) erschienen sind.

Auch in einigen seiner frühen Romane, wie zum Beispiel Der Liebhaber (1977), der zur Zeit des Jom-Kippur-Kriegs spielt und verschiedene politische Ansichten, darunter auch die eines Arabers, zur Sprache bringt, bleibt die Politik nie außen vor.

Einmischung sah er als Pflicht. Bereits nach dem Sechstagekrieg äußerte er Kritik an Israels Politik.

Bereits kurz nach dem Sechstagekrieg äußerte er Kritik an der israelischen Politik in den besetzten Gebieten und zählte zu den Befürwortern der »Genfer Initiative«. 1988, während der Ersten Intifada, veröffentlichte er zusammen mit Amos Oz und Jehuda Amichai in der »New York Times« einen Brief, in dem die amerikanischen Juden dringend gebeten wurden, ihre Meinung zu diesem Konflikt zu sagen.

KONFLIKT Nicht immer wurden seine politischen Äußerungen gern gehört. Aber Jehoschua hielt es als Autor für seine Pflicht, sich einzumischen. Wegen seiner vermittelnden Haltung im Konflikt zwischen Israel und den Palästinenser erntete er oft Kritik. 2016 schlug er beispielsweise vor, Hunderttausende Palästinenser im Westjordanland als Einwohner anzuerkennen, ohne damit eine Annexion dieser Gebiete zu implizieren.

Bereits in seiner Erzählung Angesichts der Wälder (hebräisch 1968, deutsch 1982) richtet sich der Blick auf den Konflikt in der »alt-neuen« Heimat. Ein lustloser Student übernimmt einen Job als Forstaufseher in einem der Wälder, die dem Israelischen Nationalfonds gehören.

In der Einsamkeit wird ihm bewusst, wie fremd ihm die Verhältnisse im Land geworden sind. Von den gelegentlichen Besuchern erfährt er, dass an der Stelle, wo jetzt der Wald sich ausbreitet, früher einmal ein arabisches Dorf stand.

Als schließlich der stumme Araber, der ihm bei seinen Feuerwachen zuschaut, den Wald in Brand steckt, schaut der junge Waldhüter zu und verhindert die Brandstiftung nicht. Auch den anderen drei Kurzgeschichten, die in diesem Erzählungsband erschienen sind, ist der destruktive Charakter der jeweiligen Protagonisten gemeinsam.

MOLCHO Der Held von Jehoschuas drittem Roman (hebräisch 1987, deutsch 1989) Die fünf Jahreszeiten des Molcho ist ein Beamter, der sieben Jahre lang aufopferungsvoll seine krebskranke Frau gepflegt hat. Als sie gestorben ist, beginnt für ihn die Suche nach der eigenen Identität.

Es fällt ihm jedoch schwer, aus dem Schatten seiner bisherigen Existenz zu treten. Das Bekenntnis zu seinen eigenen Bedürfnissen, vor allem sein Wunsch nach einem erfüllten Sexualleben, erscheint ihm latent als endgültiger Abschied von seiner Frau.

»Bulli« war ein Mann von bewundernswerter Bescheidenheit, die man nicht oft bei Autoren findet.

Erst nach einer Reihe tragikomischer Episoden und verpasster Chancen, sich erneut zu verlieben, gelingt es ihm, sich von den hemmenden Erinnerungen an seine verstorbene Frau zu befreien. Selbstzweifel und kleinliche Suche nach dem eigenen Vorteil, Sentimentalität und der unbewusste Verdacht, sich den Anforderungen der Umwelt nicht entziehen zu können, vermischen sich auf mitunter groteske Weise in diesem Roman, der zu Recht von der Kritik als »Meisterwerk« bezeichnet wurde.

SPANNUNG In der Familiensaga Die Manis (hebräisch 1990, deutsch 1993) setzt sich Jehoschua mit Fragen der jüdischen Identität, der Spannung zwischen Idee und Wirklichkeit in Eretz Israel und der Rolle des Schicksals im Leben eines Menschen auseinander. Mehr noch: Die Geschichte des Einzelnen öffnet den Blick auf die Vielfalt des alltäglichen Lebens in Palästina über einen Zeitraum von über 150 Jahren.

Man wird seine literarische Stimme nicht nur in Israel vermissen.

Der Roman besticht nicht zuletzt aufgrund seiner virtuosen Prosa. Jede Stimme erzählt in einem anderen Stil, mal in der saloppen Gegenwartssprache, mal in einem Hebräisch, das an die jüdische Dichtung im mittelalterlichen Spanien erinnert. Er bedient sich eines ganz eigenen literarischen Musters. Der ganze Roman besteht nämlich aus direkter Rede, wobei sich der Leser den Part des Gegenübers, des Zuhörers, hinzudenken muss.

glück Ich hatte das Glück, Bulli zu kennen, seit vielen Jahrzehnten. Er war ein Mentsch, wie man auf Jiddisch sagt, ein Mann mit einer unglaublichen menschlichen Wärme und dazu von bewundernswerter Bescheidenheit, die man nicht allzu oft bei Autoren und Autorinnen antrifft.

Seine Werke, die zum Kanon der hebräischen Literatur zählen, legen Zeugnis von einer außergewöhnlichen Fantasie und meisterhaften Erzählkunst ab. Sie gehören eindeutig zur Weltliteratur. Man wird seine literarische Stimme nicht nur in Israel schmerzlich vermissen.

Die Autorin ist Professorin für Hebräische und jüdische Literatur an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg.

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 20. Februar bis zum 27. Februar

 21.02.2025

Berlinale

»Das verdient kein öffentliches Geld«

Der Berliner CDU-Fraktionschef Dirk Stettner hat seine Karte für die Abschlussgala zerrissen – und will die Förderung für das Filmfestival streichen

von Ayala Goldmann  21.02.2025

Bayern

NS-Raubkunst: Zentralrat fordert schnelle Aufklärung

Der Zentralrat der Juden verlangt von den Verantwortlichen im Freistaat, die in der »Süddeutschen Zeitung« erhobenen Vorwürfe schnell zu klären

 20.02.2025

Kolumne

Unentschlossen vor der Wahl? Sie sind in guter Gesellschaft – mit Maimonides

Der jüdische Weise befasste sich mit der Frage: Sollten wir als Kopfmenschen mit all unserem Wissen auch bei Lebensentscheidendem dem Instinkt vertrauen?

von Maria Ossowski  20.02.2025

Berlin

Eine krasse Show hinlegen

Noah Levi trat beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest an. In die nächste Runde kam er nicht, seinen Weg geht er trotzdem

von Helmut Kuhn  20.02.2025

NS-Unrecht

Jüdische Erben: »Bayern hat uns betrogen« - Claims Conference spricht von »Vertrauensbruch«

Laut »Süddeutscher Zeitung« ist der Freistaat im Besitz von 200 eindeutig als NS-Raubkunst identifizierten Kunstwerken, hat dies der Öffentlichkeit aber jahrelang verheimlicht

von Michael Thaidigsmann  20.02.2025

Literatur

»Die Mazze-Packung kreiste wie ein Joint«

Jakob Heins neuer Roman handelt von einer berauschenden Idee in der DDR. Ein Gespräch über Cannabis, schreibende Ärzte und jüdischen Schinken

von Katrin Richter  20.02.2025

Berlinale

Auseinandergerissen

Sternstunde des Kinos: Eine Doku widmet sich David Cunio, der am 7. Oktober 2023 nach Gaza entführt wurde, und seinem Zwillingsbruder Eitan, der in Israel auf ihn wartet

von Ayala Goldmann, Katrin Richter  19.02.2025

Berlin

»Sind enttäuscht« - Berlinale äußert sich zu Antisemitismus-Skandal

»Beiträge, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, überschreiten in Deutschland und auf der Berlinale eine rote Linie«, heißt es in einer Erklärung des Festivals

von Imanuel Marcus  19.02.2025