Neben Francis Bacon, R.B. Kitaj, Henry Moore und Lucian Freud galt der deutsch-britische Maler Frank Auerbach, der am 11. November im Alter von 93 Jahren in London starb, über die Grenzen Großbritanniens hinaus als einer der international bedeutendsten Künstler der Nachkriegsmoderne.
Am 29. April 1931 in Berlin geboren, wurde Auerbach als Achtjähriger von seiner Familie aus Berlin 1939 mit einem »Kindertransport« nach England ins Exil geschickt, wo er bei Verwandten aufwuchs, ohne seine Familie und Freunde je wiederzusehen.
Die Schriftstellerin Iris Origo hatte es Auerbachs Eltern ermöglicht, ihren Sohn neben fünf weiteren Kindern in Sicherheit zu bringen, indem sie den Besuch von Bunce Court, eines von Anna Essinger gegründeten gemischtgeschlechtlichen Internats finanzierte. Wenn auch streng, so empfand Auerbach die Schule doch als befreiend.
Anfangs ermöglichten Rot-Kreuz-Briefe alle drei Monate eine Verbindung mit der Heimat, bis der Kontakt abbrach und Auerbach nie wieder etwas von seinen Eltern hörte. Später sollte er sich nur fragmentarisch an seinen nachgiebigen Vater, einen Patentanwalt, und seine strenge Mutter sowie einsame Spaziergänge mit einer Kinderfrau ohne Kontakte zu Gleichaltrigen in der Berliner Güntzelstraße erinnern.
Auerbachs Bilder waren augenscheinlich alles andere als nur Variationen eines einzigen Themas, obwohl Auerbach selbst das bestritten hätte. Ihm ging es – wie einem Chronisten – darum, etwas einzufangen, um es »gegen den Vergang der Zeit zu schützen«.
Seine Eltern wurden im Konzentrationslager Auschwitz ermordet
Wie ein Schatten lastete lebenslang das Wissen auf ihm, dass sein Vater und seine Mutter, die in Deutschland geblieben waren, in Auschwitz ermordet wurden. Seine Eltern waren Verwandte des späteren Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki.
Als Achtjähriger gelangte Auerbach mit einem »Kindertransport« von Berlin nach England.
Für die künstlerische Entwicklung Auerbachs waren mehrere Umstände von zentraler Bedeutung. Einerseits die Zeichenklasse des polnischen Malers David Bomberg (1890–1957) am Borough Polytechnic Institute, die sich gegen die akademische Tradition richtete und die er von 1948 bis 1954 an zwei Abenden pro Woche besuchte, nachdem er die Saint Martinʼs School of Art absolviert und das Royal College of Art besucht hatte.
Für Bomberg war eine perfekt ausgeführte, sorgfältig modellierte und wohlproportionierte Lebenszeichnung eine komplette Lüge. Auch bei Auerbach gab es keine Aufzeichnung von Oberflächenerscheinungen, sondern alles beruhte auf einer zutiefst emotionalen Reaktion auf die physischen Fakten der Existenz. Bombergs Lehren knüpften an Auerbachs Interesse an Fragen zur Identität an und wurden zum Rückgrat von dessen Zeichenkunst.
In den Anfangsjahren hatte er wenig Erfolg als Künstler
In den Anfangsjahren hatte er allerdings wenig Erfolg als Künstler und musste sich unter anderem als Lehrer über Wasser halten. Zusammen mit seinem Freund Leon Kossoff (1926–2019) ließ er sich jahrzehntelang von Kunstwerken in der Londoner National Gallery inspirieren, bevor diese zu Prüfsteinen seiner eigenen Malerei wurden.
Währenddessen bewahrte sich Auerbach bis ins hohe Alter ein ausgezeichnetes Deutsch, ebenso wie er vor 70 Jahren sein Atelier in der Nähe von Londons Underground Mornington Crescent im Stadtbezirk London Borough of Camden bezogen hatte und es nie wieder verließ. Auf wenigen Quadratmetern war dies der perfekte Ort, um langjährige Freundschaften zwischen Modell und Künstler zu pflegen. Wie etwa die zu seiner Cousine Gerda Böhm, die von 1961 bis 1982 wöchentlich für den Künstler Modell saß.
Sein Atelier war ausgesprochen chaotisch – mit einem Hang zum Messie-Syndrom. Ähnliches findet man bei seinem Freund Francis Bacon (1909–1992), über den Auerbach sagte: »Ich habe ihn vielleicht zehn Jahre lang jede Woche getroffen und gesprochen. Ich glaube, dass er ein Genie ist.«
Auch Auerbach kratzte kräftig aufgetragene Farben jeden Tag, Tube um Tube, wieder von der Leinwand. Viele Kunstkritiker verblüffte er bereits in seinem Frühwerk mit pastoser Farbdicke, bei der zähflüssige Klumpen und Tropfen in Position gebracht worden waren, um Köpfe so zu modellieren, dass man wie bei einem Relief unter ihr Kinn schauen konnte: gewichtig für die Kunst, aber bei vielen seiner frühen Köpfe auch mit dem Gewicht von Traurigkeit versehen.
Später sollte er einen fließenderen und beweglicheren Ansatz im Duktus seines Pinsels finden, der den Betrachter mit unerwarteten Kraftlinien und plötzlichen Richtungswechseln durch das Bild führt. Und doch blieben die frühen Narben in seiner Kunst sichtbar.
Seine Mutter hatte seine Bettwäsche mit einem roten Kreuz gekennzeichnet - es spiegelte sich als rotes Band in Bildern wider
In den beiden Koffern, die er aus Deutschland mitbrachte, befanden sich seine aktuelle Kinderkleidung und Bettwäsche – sowie größere Kleidung und Bettwäsche für die Zukunft. Letztere hatte seine Mutter durch ein großes Kreuz aus roter Baumwolle gekennzeichnet, das sie auf jedes Teil genäht hatte und das die Erinnerung an den Verlust der Mutter noch lange Jahre wachhalten sollte. Noch Jahrzehnte später sollte Auerbach in seinen Landschaften der Gegend um Primrose Hill rote Bänder, die sich in den Bildern jeweils im Zickzack über den blauen Himmel ziehen, wie ein Echo auf die Stickerei seiner Mutter in seinen Malereien verwenden.
Mit den Jahren änderte sich je nach Stimmung des Motivs seine Farbpalette und wurde weniger starr. Dabei führte Auerbachs forschende Arbeitsweise dazu, dass seine Gemälde viele Nuancen und Verwandlungen durchliefen, bevor sie oft erst nach Jahren vollendet waren. Seine Kunden besuchten ihn jede Woche, zu festen Zeiten, teils über Jahrzehnte, und sicherten als Sammler die Existenz des Malers.
In der Zeit, als Camden Town mit seinen Menschenmassen an den Wochenenden aufblühte, fanden auch sie Eingang in die Stadtlandschaften seiner Umgebung. Waren Letztere nach dem Krieg zunächst gespenstische Ruinen-Motive in Schwarz, Weiß und Grau, führte seine Faszination für den Wiederaufbau zerstörter Stadtteile Londons mit der Rohheit von Baustellen mit Trägern und Leitern zu den Motiven, mit denen er Ordnung und Kohärenz in der Farbe wiederherstellen konnte.
Sein Atelier war chaotisch mit einem Hang zum Messie-Syndrom.
»Das Thema ist das Plastische, das man vielleicht neu und vielleicht kühn und vielleicht manchmal willkürlich oder frech aus dem Thema herausziehen kann, weil man es tief genug kennt, um gültige und neue Sachen darüber sagen zu können«, formulierte Frank Auerbach einmal in einem Gespräch Mitte der 80er-Jahre seinen künstlerischen Ansatz: »Und es scheint mir einfach ein bisschen, dass man ein paar Schritte den Weg entlanggeht, wenn man das Thema gut kennt, und vielleicht noch ein oder zwei Schritte, wenn man das Thema ein- oder zweimal schon versucht hat zu malen, es gibt immer neue Probleme, aber vielleicht sind es interessantere oder tiefere Probleme, wenn man weitergeht.«
Später Durchbruch: 1986 gestaltete er den britischen Pavillon auf der Biennale in Venedig
Der künstlerische Durchbruch kam spät: 1986 gestaltete Frank Auerbach im Alter von 55 Jahren den britischen Pavillon auf der Biennale in Venedig. Gemeinsam mit dem deutschen Künstler Sigmar Polke wurde er mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Dennoch sind bis heute nur wenige seiner Werke in öffentlichen Sammlungen außerhalb Großbritanniens zu sehen.
Was trieb den Künstler Frank Auerbach an? Zeit seines Lebens war die Kunst auch Wahrheitssuche, wie er selbst sagte: »Für uns war es damals normal, in einem kleinen Zimmer zu sitzen, kaum Mittel zu haben. Wir wollten irgendetwas sehr Tiefes und Deutliches, Scharfes über die Wahrheit sagen. Das war für uns wichtig. Und da wir sowieso keine Hoffnung hatten, von der Kunst zu leben, da wir auf der tiefsten sozialen Ebene Kunst betrieben, haben Künstler wie Giacometti eine Hoffnung geboten, doch weiterzumachen und alles für eine wahre, kompromisslose Kunst einzusetzen.«
Sieben Jahrzehnte arbeitete er an seinem Werk. So zurückgezogen, wie er in dieser Zeit lebte, so still und leise hat er sich auch als einer der bedeutendsten Künstler unserer Zeit verabschiedet. Seine Worte aus Venedig erinnern an ein lebenslanges Trauma: »Also, wenn ich nicht die Welt rette, habʼ ich vielleicht mich selbst gerettet.«