Lawrence Zeiger aus Brooklyn war ein braver jüdischer Junge. Zu Hause beachtete man die Religionsgesetze – und seine Barmizwa legte Lawrence komplett auf Hebräisch ab. Allerdings desillusionierte ihn der Tod des geliebten Vaters, Aaron Zeiger, der an einem Herzinfarkt starb, als der Junge gerade einmal neuneinhalb Jahre alt war, und säte die ersten Zweifel am Glauben.
Künstlername Die Erfahrung, ohne Vater nur mithilfe von Schecks der Sozialbehörden über die Runden gekommen zu sein, prägte auch seinen politischen Standpunkt links der Mitte, erzählte der damals 70-Jährige, der längst den Künstlernamen Larry King trug und zu einem der populärsten Fernsehstars der Geschichte geworden war, 2003 dem »Jewish Journal« aus Los Angeles.
Seine orthodoxen Eltern waren gemeinsam nach New York ausgewandert – Zeiger senior stammte aus Galizien in der heutigen Ukraine, seine Frau Jennie, geborene Glitlitz, aus dem heutigen Weißrussland.
King erinnerte sich zeitlebens »an alles, was meinen Vater betrifft – seinen Gang, seinen Geruch, den Klang seiner Stimme«. Obwohl sein Vater ein meist gut gelaunter Mensch war, in dessen Gegenwart man sich wohlfühlte, gab es zwei eherne Grundsätze, die er dem kleinen Larry so eindringlich vermittelte, dass der sie nie vergessen sollte.
Eines Tages, die Familie saß wie jeden Abend am Esstisch, fragte sein Vater ihn: »Leibel, wie war der Hebräischunterricht heute?« »Gut«, antwortete Larry. Plötzlich spürte er einen Schlag und flog durch den Raum. Sein Vater hatte jemanden getroffen, der ihm erzählt hatte, Larry sei an dem Tag gar nicht im Hebräischunterricht gewesen. »Vater saß da, nahm seinen Löffel wieder auf und aß seine Suppe weiter«, erinnerte sich King. »Er sah mich an und sagte: ›Du sollst niemals lügen.‹«
LEKTION Die zweite Lektion brannte nicht auf der Wange, war aber ebenso schmerzhaft. Sein Vater hatte ihn immer ermahnt, nicht mit Fremden zu reden. Eines Tages, er war sieben Jahre alt, saß Larry auf den Stufen vor dem Haus der Zeigers, als ein großer schwarzer Wagen am Bordstein vor ihm hielt. »Komm her, Junge«, sagte der Fahrer, ein mafiaartiger Typ, den Leibel Zeiger nach Kräften zu ignorieren versuchte. »Komm her, ich hab’ was für dich.«
Die finstere Gestalt öffnete den Kofferraum, holte bündelweise Comics heraus, warf sie Leibel zu und sagte: »Ich habe meinem Jungen angekündigt, wenn er wieder nicht gehorcht, werde ich all seine Comic-Hefte dem ersten Kind geben, das ich sehe.« »Ich bin völlig durchgedreht«, erinnerte sich Larry King noch Jahrzehnte später. »Ich nehme an, das könnte mein erster Orgasmus gewesen sein.« Abends dann fragte Aaron Zeiger seinen Sohn, woher er denn die Comic-Sammlung habe. Als er antwortete, die habe ihm jemand gegeben, schnappte Vater Zeiger sich die ganze Sammlung und schmiss sie auf den Müll.
Er beherrschte wie kein anderer das, was in New York »Schmoozing« genannt wird.
Larry King verinnerlichte beide Lektionen. Nicht mehr mit Fremden zu reden, das kam berufsbedingt später nicht mehr infrage, aber der Wahrheit blieb er für immer verpflichtet.
Er galt als einer der besten Interviewer, dabei führte er Gespräche gar nicht nach streng journalistischen Regeln. Er beherrschte wie kein anderer das, was in New York »Schmoozing« genannt wird, plauderte so vor sich und dem Publikum dahin, fing jeden ein mit seinem Charme und seiner buchstäblichen Hemdsärmeligkeit, die durch sein Outfit noch unterstrichen wurde.
Sakko? Nur im äußersten Notfall, wie anlässlich seines 50. Sendejubiläums. Hemd, Hosenträger, die Ärmel hochgekrempelt – so rückte er seinen Gesprächspartnern auf den Leib, ohne dass die seine Nähe als bedrohlich empfanden. Nach vorn gebeugt, als säße er auf der äußersten Stuhlkante, so wie man das eben macht, wenn man mit Vertrauten Vertrautes besprechen möchte.
MAGIE Dass diese Vertrauten meist Super-Prominente waren, die er häufig das erste Mal zu Gesicht bekam, das merkte man nie – und das war ein Teil der Magie dieses 1,75 Meter großen Giganten. »Je weniger ich weiß, desto besser«, sagte King einmal dem »National Public Radio« (NPR). »Ich weiß, dass das seltsam klingt. Wenn Sie etwa ein Buch geschrieben hätten, würde ich das vor unserem Interview nicht lesen, denn dann würde ich ja zu viel über das Buch wissen. Außerdem sitze ich im selben Boot wie das Publikum – die haben das Buch auch nicht gelesen.«
Seine Karriere begann beim Radio, in Miami, wo in den 50ern und frühen 60ern eine Art Goldrausch für den Rundfunk herrschte. Es war der 1. Mai 1957, an dem aus dem 23-jährigen »Leibel« Zeiger Larry King wurde. Larry hatte bei dem Sender WAHR als DJ angeheuert. Kurz bevor er auf Sendung gehen sollte, sagte ihm der Chef des Senders, sein Name klinge »zu ethnisch«. An diesen Nachnamen würde man sich nur schlecht erinnern. Zeiger, der nur Radio im Kopf und nur 13 Dollar in der Tasche hatte, fiel eine Anzeige im »Miami Herald« auf, der im Sender auslag. »King’s Wholesale Liquor« stand da. King. Larry King? Liquor. Larry Liquor? King klang seriöser.
KOPFSCHUSS 2017, 60 Jahre und gut 50.000 Radio- und Fernsehinterviews später, kehrte Larry King noch einmal zu den Ursprüngen seiner Karriere zurück. Howard Cohen, Reporter beim »Herald«, erinnert sich in seinem wunderbaren Nachruf auf King an eine Fahrt zurück aus dem Stadtteil North Bay Village, wo King 1960 mit seinen Prominenten-Interviews begonnen hatte. Das Gespräch kam auf Nachrufe, und schnell war Larry King bei seinem eigenen, erinnert sich Cohen.
Der Name Leibel Zeiger klang dem Senderchef in den 50er-Jahren »zu ethnisch«.
Dafür brauche es eine knackige Zeile und einen besonderen Einstieg. Cohen schreibt: »Mit einem schelmischen Grinsen legte er los, mit dieser vertrauten Stimme, die so fest verwurzelt war im Timbre seines Geburtsorts New York City: ›Zeile: Ältester Mann aller Zeiten heute gestorben. Er wurde im Bett mit einer 30-jährigen Frau gefunden. Er starb an einem Kopfschuss, abgefeuert vom Ehemann. Er war sofort tot, und es dauerte drei Tage, um das Lächeln von seinem Gesicht wegzukriegen. Sie kennen ihn vermutlich als Larry King. Er war 127, alles funktionierte noch so, wie es sollte. Er war immer noch auf Sendung und hatte seine große Show zum 120. Jahrestag gehabt – und er sendete aus dem alten ›Herald‹-Gebäude.«
King lehnte sich zufrieden zurück und fügte noch schnell seine Berufsbezeichnung an: »Er informierte.« Sein Assistent, der mit dieser Nachruf-Parodie genauso wenig glücklich zu sein schien wie mit der Pointe eines schmutzigen katholischen Highschool-Witzes, die King während der Fahrt noch von sich gab, versuchte einzugreifen. »Das war jetzt aber alles vertraulich – off the record.« »Nein, wieso vertraulich, das habe ich so gesagt. Ich bin 83 Jahre alt. Was soll mir bitte passieren?«
Diese Episode vom Ende eines unfassbar reichen Lebens sagt viel aus über King und wie er das väterliche Ethos von der Aufrichtigkeit verinnerlicht hatte. Und es zeigt auch die Bodenständigkeit eines Mannes, der zwar schwerreich geworden war mit dem, was er tat, aber auch mehrfach, unter anderem wegen seiner Spielsucht, tiefe finanzielle Krisen durchlief.
BODENSTÄNDIGKEIT Diese Bodenständigkeit war wahrscheinlich der Schlüssel zu seinem Erfolg. »Ich mache keine Show, ich benutze nie das Wort ›ich‹, das ist irrelevant in einem Interview«, sagte King einmal dem »Hollywood Reporter«. »Ein Interview wird nur geführt, um deutlich zu machen, was der andere denkt. Ich bin nur hier, um zu lernen …«
King stellte kurze, naiv anmutende Fragen, die aber stets zu erstaunlichen Antworten führten. »Auf ›warum‹ kann man nicht kurz antworten« war eines seiner Credos. Und so fragte er den einstigen Präsidenten Richard M. Nixon, der über die Watergate-Affäre gestolpert war, was er denn so fühle, wenn er am Watergate-Hotel vorbeifahre, worauf Nixon unschuldig wie ein kleines Kind antwortete, er sei da ja nicht drin gewesen, das seien andere gewesen.
Fremde schütteten ihm ihr Herz aus – und waren plötzlich keine Fremden mehr.
Seine legendäre Sendung Larry King Live, die von 1985 bis 2010 lief, 6120 Folgen lang, war wohl der größte Aufmarsch an Stars, den ein einzelnes TV-Format jemals hatte. Nach Nixon interviewte King jeden US-Präsidenten. Marlon Brando küsste ihn verzückt auf den Mund. Ob Dolly Parton, Mick Jagger, Barbra Streisand – King hatte sie alle, allein während der 25 Jahre bei CNN führte er 30.000 Interviews. Durch seine vordergründig stets freundliche Gesprächsführung und die kumpelhafte, später großväterliche Attitüde entlockte er seinen Interviewpartnern die erstaunlichsten Bekenntnisse.
Neugier Das galt besonders für Politiker, obwohl King a priori kein politischer Journalist war. Er war ein Menschenfreund, zeitlebens angetrieben von einer notorischen Neugier. Und er beherzigte sogar auf ganz eigene Weise die zweite Lektion, die er von seinem Vater gelernt hatte.
Denn die Fremden, die er meist schon mit der ersten Frage in seinen Bann zog, schütteten ihm ihr Herz aus – und waren plötzlich keine Fremden mehr. Und so ging es jedem, der vor dem Bildschirm saß und Larry King Live sah. Der kleine Leibel aus Brooklyn war wohl der größte Kommunikationsmagier der TV-Ära.
Larry King starb am 23. Januar im Alter von 87 Jahren mit Covid-19. Er hinterlässt sieben Witwen aus acht Ehen und drei Kinder. Zwei seiner ursprünglich fünf Kinder, Andy King und Chaia King, gingen ihm 2020 innerhalb von vier Wochen voraus.