Herr Keret, Sie haben vergangene Woche gemeinsam mit dem Autor Daniel Kehlmann die deutsch-israelischen Literaturtage eröffnet. Wie fühlt es sich an, in Berlin zu sein?
Ich reise ja sehr viel wegen meines Buches, aber es gibt nur wenige Orte, an denen ich mich richtig zu Hause fühle. Und Berlin ist einer davon. Normalerweise, wenn ich irgendwohin eingeladen werde, habe ich den Reflex, abzusagen, aber wann immer eine Einladung nach Berlin kommt, folge ich ihr. Ich habe über die Jahre die verschiedensten Wandlungen der Stadt mitbekommen – die positiven wie die negativen.
Inspiriert Sie die Stadt als Schriftsteller?
Sie ist insofern äußerst interessant, weil man hier innovative Leute trifft. Die Menschen sind offen, kreativ und neugierig. Es erinnert mich unheimlich an Tel Aviv – genauso vielseitig, ein Treffpunkt für Ost und West. Auch in Tel Aviv findet man selten Leute, die bereits seit vier Generationen dort leben. Diese beiden Städte sind ungezwungen und haben keine steife Identität. Auf die Frage, was es heißt, Berliner zu sein, gibt es eigentlich keine wirkliche Antwort. In Dahlem lautet die Antwort anders als in Kreuzberg.
Sie haben »Die sieben guten Jahre« bewusst nicht in Israel herausgebracht. Weshalb nicht?
Mein Sohn wollte es nicht. Er sagte, sein Leben sei gut, warum sollte man das also ändern? Außerdem hatte er ein Problem, denn in einer Geschichte erzählt er eine Lüge, und er wollte nicht, dass seine Lehrer es lesen. Es gibt also keinen original hebräischen Text, sondern er wurde auf Englisch bearbeitet. Damit ist es mein erstes Buch, das vom Englischen aus übersetzt wurde.
Daniel Kehlmann hat die Übersetzung für die deutsche Ausgabe besorgt. Wie kam der Kontakt zustande?
Ich habe Daniel als Leser seines Buches Die Vermessung der Welt kennengelernt. Er ist jünger als ich, aber wir sind in der gleichen Situation, denn wir sind beide Väter eines Sohnes. Er hat diese Wärme, von der ich gerne denken möchte, dass ich sie auch habe. Er ist sehr großmütig. Mir fällt es immer schwer, jemanden um etwas zu bitten, aber wenn ich weiß, dass derjenige ein edelmütiger Geist ist, dann ist es leichter. Ich habe Daniel eine lange E-Mail geschrieben, in der ich erklärte, weshalb dieses Buch wichtig für mich ist, und warum ich ihn für den passenden Übersetzer halte.
»Die sieben guten Jahre« wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Welche Ausgabe gefällt Ihnen am besten?
Mich hat am meisten die auf Farsi berührt. Das Buch wurde in Afghanistan gedruckt, und viele Exemplare wurden nach Iran geschmuggelt. Dort gibt es einen Schwarzmarkt für Titel, die man im Land sonst nicht kaufen kann. Mein persischer Übersetzer erzählte mir, dass er eine Mail erhalten habe, in der vor der israelischen Propaganda in meinem Buch gewarnt wurde, auch wenn es biografisch sei. Die Idee, dass ich etwas geschrieben habe, das auch die Menschen im Iran erreicht, dass sie darin über meinen Alltag lesen, ist sehr bewegend.
Haben Sie sich in irgendeiner Form speziell an die iranischen Leser gewendet?
Ich schrieb im Vorwort zur Farsi-Übersetzung, dass ich, als ich Soldat war, zum ersten Mal einen iranischen Film – er hieß »A Moment of Innocence« – gesehen habe. Davor bestand das Land für mich eher aus Chomeini, Kidnapping und wenig Farbe. Dieser Film erzählt persönliche Geschichten und zeigt, dass nicht allzu viele Menschen im Iran aufwachen und an den Dschihad denken. Die meisten denken darüber nach, warum ihre Freundin sie vielleicht nicht mehr liebt, ob sie ihren Job behalten werden et cetera. »Die sieben guten Jahre« erschien auch in Indonesien oder in den palästinensischen Autonomiegebieten. Meine Geschichten kommen also an Orte, zu denen ich nicht reisen kann. Israel ist schon seltsam, denn es ist doch sehr isoliert. Wir können uns nicht einfach ins Auto setzen und ins nächste Land fahren. Meine Geschichten können also über Mauern und Zäune fliegen und Menschen erreichen.
Bekommen Sie ein Feedback, zum Beispiel von Ihren iranischen Lesern?
Indirekt durch meinen Übersetzer, aber die palästinensischen Leser und auch die aus Indonesien stellen mir über Facebook teilweise sehr spezifische Fragen. Ein Land, in dem ich außerhalb von Israel sehr viel gelesen werde, ist beispielsweise die Türkei. Die Beziehungen zwischen der Türkei und Israel sind ja sehr spieziell. Trotzdem kommen viele Menschen – einige Frauen tragen auch Kopftücher – zu meinen Lesungen und hören sich meine Geschichten an. Das ist sehr herzerwärmend. Ich kann ja eine kleine Anekdote erzählen – oder ist es dafür zu früh?
Ganz und gar nicht.
Ich war in Istanbul bei einer Lesung. Wenn ich Bücher signiere, dann dauert es immer ein bisschen, denn ich zeichne gern ein kleines Bild dazu. Manchmal gehen Leute zwischendurch hinaus und rauchen eine Zigarette. Und meine Herausgeberin in der Türkei erzählte mir von einem jungen Mann, der ihr während einer dieser Pausen erzählte, dass er aus einem Dorf käme, das etwa fünf Stunden von Istanbul entfernt sei. Er sei so glücklich, da zu sein, denn er hätte beinahe nicht kommen dürfen. Sein Großvater wurde krank. Der Vater des Jungen sagte, er müsse sein Studium in Istanbul unterbrechen und nach Hause kommen, um sich um den Großvater zu kümmern. Als der Enkel sah, dass ich eine Lesung in Istanbul hatte, fragte er seinen Vater, ob er hinfahren dürfe. Sobald jener aber erfuhr, dass ich Israeli bin, verbat er seinem Sohn, sich für einen Juden fünf Stunden lang ins Auto zu setzen. Am Abend, als der Enkel seinen Großvater duschte, sah dieser, dass der Junge traurig war, und fragte ihn, was denn los sei. Also erklärte er es ihm. Der Großvater sagte, er solle seine Sachen packen und den ersten Bus nach Istanbul nehmen. Denn er sei schließlich der Älteste in der Familie. Und dann sagte er – und dabei werde ich heute noch ganz emotional: »Wenn jemand dein Herz berührt, ist die Religion oder die Nationalität egal. Dann sollte man hingehen und sich bedanken.«
Sie haben kürzlich eine Geschichte auf der Online-Plattform BuzzFeed veröffentlicht. Sie heißt »The Arctic Lizard« und spielt in einer imaginären dritten Amtszeit von Donald Trump. Die USA wählen am Dienstag. Wie verfolgen Sie den Wahlkampf?
Die Geschichte erschien zuerst in Israel und war gar nicht in dieser Donald-Trump-Umgebung angelegt. Sie sollte etwas Allgemeines darüber sagen, in welche Richtung sich unsere Welt entwickeln wird. Dass sie immer nationalistischer wird, immer fremdenfeindlicher, dass Menschen Technologien und Medien so einsetzen, um andere schon von klein auf in eine bestimmt Richtung zu drängen. Es war also ein Ansatz wie in Orwells »1984«. Ich würde nie eine Geschichte schreiben, in der ich jemanden überzeuge, mir 20 Euro zu geben oder mir einen Kuchen zu backen. Ich schreibe also nicht, um den Leser aufzufordern, eine bestimmte Sache zu tun. Ich lade ihn in eine Umgebung ein, in der er herausfinden kann, was er will. Und in den USA fiel diese Geschichte in die Zeit des Wahlkampfs. Viele Menschen haben sie gelesen, haben am Ende vielleicht geweint und gesagt: Ich hasse Trump. Aber so war sie nicht angelegt. Die amerikanischen Leser verknüpften nur diesen Text mit der aktuellen Situation. Wenn es nach mir ginge, sollte Trump trotzdem nicht Präsident werden.
Mit dem israelischen Autor sprach Katrin Richter.
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