Ruth Weiss

»Meine Gedanken sind im Nahen Osten«

Ruth Weiss war viele Jahrzehnte Journalistin und hat mehrere Bücher verfasst. Als Zeitzeugin besuchte sie auch Schulen. Foto: imago / Markus Joosten

Frau Weiss, Sie feiern am 26. Juli Ihren 100. Geburtstag. Wie blicken Sie auf diese Zahl?
Meine Gedanken sind im Nahen Osten. Es kann gar nicht anders sein. Für jemanden wie mich ist das wirklich tragisch – auf beiden Seiten. Dieser furchtbare Überfall vom 7. Oktober. Solche Brutalität. Man kann sich gar nicht vorstellen, was diese Menschen gefühlt haben müssen. Dass sich Israel verteidigen musste, ist klar. Es ging nicht anders. Zu sehen, was die Verteidigung auf der anderen Seite bringt, diese Zerstörung, die Toten und die kleinen Kinder – das ist schlimm. Ich befasse mich nicht tagtäglich mit der israelischen Innenpolitik, daher kann ich mir selbst die Frage, ob es eine andere Möglichkeit gegeben hätte, nicht beantworten. Die Hamas wusste, dass Israel hart antworten würde. Ich trauere um die vielen Opfer des zu langen Konflikts in Gaza mit den schlimmen Folgen für so viele und das tragische Schicksal der Geiseln und deren Familien. Aus all diesen Gründen sage ich: Meine Gedanken sind im Nahen Osten. Denn es geht um alle vom Krieg betroffenen Menschen.

Wie nehmen Sie die sogenannten propalästinensischen Demonstrationen wahr, die es international gibt?
90 Prozent der Proteste richten sich gegen Israel, und das ist sehr schwer zu ertragen. Doch ich schließe mich den Juden an, die verzweifelt sind über die lange Zeit der Angriffe und ein Ende der Politik von Israels Premier Netanjahu fordern, die so viele in den Tod riss und Hungernde, Heimatlose sowie Vertriebene zurückließ. Und ich schließe mich der Forderung an, dass Friedensgespräche beginnen müssen. Das tragische Los der Geiseln und ihrer Familien ist unfassbar. Ich glaube, dass viele von denen, die »pro Palästina« auf die Straße gehen, die Geschichte von Palästinensern, Israelis und Arabern nicht kennen. Man muss ein bisschen zurückgehen in der Geschichte: Die Engländer haben nach dem Fall des Osmanischen Reiches einen Teil der Region als Mandat bekommen, und sie haben daraus Syrien, Westjordanien und Jordanien gemacht. Zu damaliger Zeit gab es überall Freiheitsbewegungen. Erst da kam das Wort Palästina auf. Davor waren es eben Araber. Während der Mandatszeit brauchten die Engländer Arbeiter, und das waren hauptsächlich die heutigen Palästinenser. Meine Frage direkt nach dem Zweiten Weltkrieg war: Warum sagten die arabischen Staaten »Nein« zum vorgeschlagenen UN-Teilungsplan mit der Konsequenz, dass fünf Staaten über den neu gegründeten Staat Israel herfielen? Warum hieß man nach Kriegsende die Palästinenser nicht willkommen? Heute spricht man wieder von einem palästinensischen Staat, und in der Knesset gibt es arabische Parteien.

Es gab kurz nach dem 7. Oktober ein Video der israelischen Botschaft, in dem gezeigt wurde, was aus dem Gazastreifen nach dem Abzug Israels hätte werden können. Warum wurde diese Chance vertan?
Immer wieder gab es erfolglose Bemühungen. Es gab Differenzen zwischen der PLO und der Opposition. Und diese Opposition schloss die Hamas ein. In deren Charta steht: Unser Ziel ist es, Israel zu zerstören und alle Juden zu töten. Und um dieses Ziel zu erreichen, haben sie Unterstützung von anderen Extremisten in anderen Ländern erhalten und haben sie noch heute. Dann gab es einen Waffenstillstand, und diese Zeit wurde genutzt, um ein riesiges Tunnelsystem aufzubauen, das wiederum am 7. Oktober 2023 dazu benutzt wurde, um die Kibbuzim zu überfallen. Das bedeutet: Die Milliarden, die in diese Waffen und in das Tunnelsystem gesteckt wurden, haben nicht die eigene Bevölkerung erreicht. Hinzu kommt, das hat das Pentagon ja bestätigt, dass die Eingänge der Tunnel von der Hamas bewusst unter Moscheen und Schulen gelegt wurden. Krankenhäuser wurden ebenfalls als Waffenlager oder für Dienststellen der Hamas benutzt. Und all das wird von der internationalen Protestbewegung überhaupt nicht benannt. Wissen die das denn nicht?

Frau Weiss, ich würde gern das Thema wechseln und mit Ihnen über Ihre Ankunft in Südafrika sprechen. Wie war das für Sie als junges Mädchen?
Mein Vater war bereits im Land, meine Mutter ist mit meiner Schwester und mir gefahren. 1936 war das. Schon zur Zeit der Nürnberger Gesetze. Das bedeutete, dass wir von Hamburg aus in der dritten Klasse eines Frachtschiffes fuhren. Alle waren dort Flüchtlinge. Mit den oberen beiden Klassen hatten wir nichts zu tun. Aber ich kannte das bereits aus meiner Heimatstadt Fürth. In Südafrika spielte Antisemitismus zu dieser Zeit eine große Rolle.

Wie kam das?
Die Engländer und die Nachkommen der ersten Siedler aus Holland, Deutschland und Frankreich haben sich zwei Mal bekriegt. Diese Kriege steckten in den Körpern derer, die vier Jahre lang gegen die Engländer gekämpft und verloren hatten. Vor allem der, der 1902 endete und zur Gründung der Südafrikanischen Union führte. Die Ideologie der dominierenden Weißen den schwarzen Südafrikanern, den Indern, die in dem Land lebten, gegenüber war die gleiche wie die der Nazis. Es gab eine Riesenbewegung von Männern aus der unteren Klasse – der sogenannten armen Weißen –, die genau dieselbe Einstellung Juden gegenüber hatten wie die Nazis. Als wir ankamen, gab es einen Uniprofessor, Hendrik Verwoerd, der gegen die Ankunft des letzten erlaubten Flüchtlingsschiffes, der »Stuttgart«, protestierte. Er wollte verhindern, dass noch mehr Flüchtlinge nach Südafrika kommen. Verwoerd war gebürtiger Holländer und verantwortlich für die schlimmste Apartheid. Später wurde er Chefredakteur einer nationalsozialistischen Zeitung und viel später auch Premierminister in Südafrika. Das bedeutete: Am Tag, als wir von Bord gingen, sagte die Frau, die uns abholte und mit uns zwei Nächte bis nach Johannesburg im Zug fuhr: »Das ist aber schön, dass die Mädchen so eine helle Haut haben.«

Ging das so weiter?
Als wir in Johannesburg ankamen, hat mein Vater eine junge Frau angestellt, die uns im Haus half, weil meine Mutter im Geschäft gebraucht wurde. Meine Mutter, die damals vielleicht gerade einmal zwei Worte Englisch konnte, unterhielt sich irgendwie mit dieser jungen Frau. Sie hatte ein Baby auf dem Rücken, setzte es ab, und wir Kinder spielten mit ihm. Innerhalb weniger Stunden hatten wir Besuch von den Nachbarn, die uns zu verstehen gaben: Man spielt nicht mit einem schwarzen Kind.

Wie haben Sie reagiert?
Ich sagte: In Deutschland durften die deutschen Kinder nicht mit mir spielen. Jetzt darf ich nicht mit schwarzen Kindern spielen. Es hörte nicht auf. Es gab keine Pause.

Wie haben Sie das alles verkraftet?
Der Antisemitismus hat die Apartheid-Zeit für mich geprägt. Wir waren nicht die einzigen Emigranten. Es waren etwa 6000, die nach Südafrika kamen, und wir waren unter den Letzten. Es gibt ja nicht nur »die« Juden, sondern es gibt die Orthodoxen, die Assimilierten. Meine Eltern waren typische jüdische Kleinbürger, die einer Synagoge angehörten und froh waren, dass jemand die Idee hatte, eine deutsch-jüdische Gemeinde zu gründen. Und da waren sie Mitglied. Aber es gab eben auch die anderen. Es gab geflüchtete Christen, Menschen, die in Deutschland in der Kommunistischen Partei gewesen waren. Es gab Homosexuelle. Und alle haben eine Organisation gegründet, einen Refugee-Hilfsfonds, um Menschen wie meiner Mutter, die kein Englisch konnte, zu helfen. Aber am wichtigsten für meine Kindheit war, dass sie eine Jugendgruppe ins Leben gerufen hatten. Und das bedeutete, wir hörten nicht nur, was sich in Deutschland abspielte – bis 1939/40, später nicht mehr –, sondern wir lernten auch viel über Südafrika.

Wie war diese Gruppe?
Nun, einige von ihnen waren Kommunisten, und die Kommunistische Partei in Südafrika war die einzige Partei, die schwarze Mitglieder hatte. Ich spreche nicht vom African National Congress. Das war eine schwarze Partei. Aber eine andere weiße Partei, die schwarze Mitglieder hatte, gab es nicht. Einige der deutschen Juden waren Mitglieder, und das waren nicht meine Freunde.

Was hat Ihnen an Südafrika gefallen?
Für die Schönheit des Landes hatten wir zunächst keine Zeit. Der Rassismus überlagerte vieles. Es gab Dienstboten in dem Vorort unserer Stadt, die von den Weißen behandelt wurden wie der letzte Dreck. Wenn man das jeden Tag erlebt, wenn man – wie ich – eine Freundin hat, mit der niemand anderes spielte, weil sie angeblich eine »Farbige« war, und ich nicht wusste, warum, wenn man also diese Apartheid miterlebt, dann kommt der Blick für das Schöne erst später. Die Schönheit Südafrikas – damit meine ich die Tiere und die vielen Menschen mit ihrer eigenen Kultur –, sie war damals in unserem Vorort überhaupt nicht präsent. Wir hatten auch nicht die Möglichkeit, in den Urlaub zu fahren. Ich erinnere mich – das gehört auch zu dieser Zeit –, dass die Staffel, in der Göring im Ersten Weltkrieg Chef war, ein jüdisches Mitglied hatte. Dieser Mann war nach Südafrika gegangen, und Göring hatte ihm erlaubt, drei Flugzeuge mit nach Südafrika zu nehmen. Und dort hat er Südafrikaner ausgebildet. Er hat uns Flüchtlingskinder, wie wir damals offiziell genannt wurden, eingeladen, um dort einige Wochenenden oder die Ferien zu verbringen. Aber das schöne Südafrika, das haben wir nicht kennengelernt, nicht zu dieser Zeit. Später war ich dann so stark mit der Anti-Apartheid und mit meinem eigenen Leben beschäftigt, dass ich Südafrika damals eigentlich gar nicht kannte. Ich kannte nur die Probleme.

Sie haben sich immer für Frauenrechte engagiert, weil Sie auch gesehen haben, wie Frauen behandelt wurden. Was würden Sie jungen Frauen von heute gern sagen?
Geh deinen eigenen Weg und guck nicht weg, wie es den Armen geht. Du musst dich engagieren. Das haben wir gemacht – wir Flüchtlingskinder. Wir haben unsere Werte aus dem Judentum gelebt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass einer von denen, die in unserer Gruppe waren, die Partei der Apartheid gewählt hat. Wir waren alle gegen Apartheid, und ich habe das später im Journalismus durch meine Artikel gezeigt.

Wie werden Sie Ihren Geburtstag feiern?
Ich werde mit meiner kleinen Familie nach Aschaffenburg fahren, wo die Stadt eine Feier hält und am Tag darauf die Schule, die nach mir benannt ist, ebenfalls feiert. Mein jüdischer Name erinnert an eine Zeit, in der es eine blühende jüdische Gemeinde gab. Ich lebe von einem Tag zum anderen. Wenn man alt ist, kann man nicht lange voraussehen, was passieren wird. Solange ich noch schreiben und sprechen kann, mache ich das gern. Und dass ich das noch darf, ist natürlich sehr schön für mich. Vielleicht doch noch ein Gedanke zu jungen Leuten: Sie müssen sich informieren, wenn sie zu einer Protestaktion gehen. Sie können protestieren, das ist auch wichtig. Wir haben ja die Freiheit, das zu tun, also zu sagen, was wir denken. Aber es muss fundiert sein. Das fehlt ganz oft. Das fehlt wirklich ganz oft. Auch an Universitäten, und es ist teilweise so erschreckend, was Studentinnen und Studenten von sich geben. Man darf nicht wegschauen – vor allem nicht als junger Mensch, sondern man muss handeln.

Mit der Journalistin, die heute in Dänemark lebt, sprach Katrin Richter.

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