Im Gegenlicht der aufgehenden Sonne wurde am östlichen Horizont der kobaltblauen See ein zarter ockerfarbener Streifen sichtbar. Zion. Seit ich mich erinnern konnte, hatte ich wie alle Juden unserer Gemeinde das Gelobte Land gepriesen und um die Rückkehr unseres Volkes nach Israel gefleht. Niemand glaubte oder wollte, dass dieses Gebet je erhört würde.
Adolf Hitler und seine Nazis hatten dafür gesorgt, dass mein Bruder Heinrich und ich uns an Bord der »Emile Zola« nunmehr den Gestaden Palästinas näherten. Auch die Fußballkameraden des FC Ichenhausen, in deren Reihen ich seit früher Kindheit gekickt hatte, die Bürger unserer schwäbischen Heimatstadt, die mir als Torschützen zugejubelt hatten, hatten uns fallen gelassen.
Heinrich und mir blieb nichts anderes übrig, als im Sommer 1934 in das britische Protektorat Palästina auszuwandern, wo die Zionisten daran arbeiteten, einen modernen Judenstaat aufzubauen. Tel Aviv war erst vor einem Vierteljahrhundert gegründet worden. Hier wollte ich meinen Platz finden. Tel Aviv bedeutet Frühlingshügel. Ich war entschlossen, ihn zu erklimmen.
Tel Aviv bedeutet Frühlingshügel. Ich war entschlossen, ihn zu erklimmen.
Als die Linie am Horizont sich dank der unverminderten Fahrt der »Emile Zola« zum Küstenstreifen ausdehnte, stimmten die etwa 100 Passagiere, die gleich uns zu dieser frühen Stunde an Deck standen, spontan die »Hatikwa« an, die Hymne der Hoffnung. Einige hatten Tränen in den Augen, während sie von der 2000-jährigen jüdischen Verheißung sangen, ein »freies Volk in unserem Land zu sein«.
HAUS Nachdem wir das Drei-Zimmer-Häuschen besichtigt hatten, rief mein Chef »Masl tov, Seligmann!« und schritt zu seinem Wagen. Aus dem Kofferraum holte er eine Mesusa, einen Hammer, Nägel und zwei Kippot. Wir setzten uns die Kopfbedeckungen auf, dann steckte der Chef das Pergamentblatt mit dem »Höre Israel«-Gebet in den kleinen Holzbehälter und nagelte diesen an den Türpfosten. Lewinsohn markierte unser neues Familienhaus, dessen Kauf er ermöglicht hatte, damit Zion unsere neue Heimat würde.
Nach der Zeremonie stopfte Lewinsohn seine Kippa in die Tasche. Ich behielt meine auf. Als ich vom Chef wissen wollte, weshalb er sich der Kopfbedeckung so schnell entledigt hatte, antwortete er: »Weil das Aberglaube ist.« »Warum haben Sie dann die Mesusa mitgebracht und den Segen gesprochen?« »Diese Folklore gehört zum Judentum.« »Aber was bleibt vom Judentum ohne unseren Glauben?« »Die Nazis und andere Anti-Semiten.«
HANNAH Hannah war überwältigend. Einer so schönen, klugen und seelenvollen Frau war ich nie zuvor begegnet. In ihren hellbraunen Augen spiegelten sich Klugheit, Witz, aber auch die Melancholie unseres Volkes. Ihre vollen, nach oben gewölbten Lippen, hinter denen sich perlenweiße Zähne reihten, verzogen sich gerne zum Lächeln, gelegentlich sprangen sie lachend auseinander. Hannahs Stimme war dunkel und rund. Über ihrem Mund thronte eine leicht gebogene orientalische Nase. Das Antlitz wurde gekrönt von einer hohen, leicht gewölbten Stirn, die ihre Klugheit unterstrich. Braune Locken umrahmten ihren Kopf. Hannahs Gesicht spiegelte den Ausdruck einer seelenvollen Symmetrie. Mir schien, dass König Salomon vor 3000 Jahren das Hohelied nicht allein zum Lobe des Herrn, sondern auch als zeitlosen Entwurf für Hannah verfasst hatte.
Siehe, meine Freundin, du bist schön!
Deine Augen sind wie Taubenaugen,
Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen,
Herabsteigend von den Bergen Gileads.
Deine Zähne sind wie eine Herde
geschorener Schafe,
Die aus einer Schwemme kommen.
Ludwig sah unscheinbar aus. Er war klein gewachsen. Sein blond-rötliches Haar war schütter. Das Kinn fliehend, doch ein Grübchen verriet Willenskraft. Fältchen um seine unauffälligen wasserblauen Augen zeigten, dass er gerne lachte. Er war klug, besaß jedoch keine höhere Bildung, aber er strahlte eine urwüchsige Zuversicht aus. Ludwig hatte zwar, wie alle Juden in Deutschland, unter den Nazis gelitten. Dennoch hatte er bisher Glück im Leben gehabt. Er hatte seine Eltern und Geschwister gedrängt, bis die ganze Mischpoche nach Israel eingewandert – und in Sicherheit – war. Während ich vor lauter Bedenken und Ängsten meinem Bruder Aaron abgeraten hatte, mit den Seinen hierherzukommen. Mein Gott, hilf mir, dass sie die Nazis in Polen überleben, sonst bin ich schuld an ihrem Unglück!
ABSCHIED »Ich werde allein in das Hospital gehen, als Soldat und Familienvater bin ich mir das schuldig.« Vater ergriff sein hölzernes Handköfferchen, bat Paula und mich, ihm zu folgen. Nachdem wir einige Schritte wortlos an seiner Seite gegangen und außer Hörweite des Hauses waren, blieb er für einen Moment stehen.
»Paula, Hannah, meine Söhne sind anständige Männer … aber sie sind beide nicht für dieses harte biblische Land geboren. Heinrich traut sich nichts zu, Ludwig zu viel. Passt auf meine Buben auf!«
Damit wandte er sich abrupt um. Angetan mit Anzug und Krawatte, schritt er kerzengrade in gleißender Sonne den sandigen Feldweg gen Petach Tikwa. Ein deutscher Landjude in Zion, das – trotz seines guten Willens – nicht seine Heimat geworden war.
Seit Vaters Tod beschränkte sich Hannah darauf, ihn zu glorifizieren. Sie bezeichnete ihn als Zaddik. »In früherer Zeit hätte man eine solche Persönlichkeit einen Engel genannt.«
Die Verklärung Vaters durch Hannah brachte mich in Rage. »Was weißt du schon von Vater?!«, brach es aus mir hervor. »Er war kein Engel! Ja, er war kein Lügner. Und er hat Menschen in Not geholfen. Seinen Kindern jedoch nicht …« »Aber Ludwig, Vater hat euch doch geliebt und unterstützt …« »Einen Dreck hat er! Wegen Vaters Apathie musste Mutter Heinrich in eine Metzgerlehre stecken. Ich wurde mit 13 aus dem Gymnasium gerissen, damit ich der Familie helfe. Thea durfte auf keine höhere Schule. Letztes Jahr hat er Kurt gezwungen, sich zur Army zu melden, obwohl der Junge völlig ungefestigt war. Kein Wunder, dass er zusammengebrochen ist und seit Monaten im Sanatorium liegt!«
Zu Vaters Lebzeiten hätte ich es nicht fertiggebracht, so offen über seine Versäumnisse zu sprechen. Doch Hannah ließ sich ihr Idol nicht nehmen. »Du kannst nicht abstreiten, Ludwig, dass Vater früher als andere die Nazis durchschaut hat und mit Mutter, Kurt und Thea ins Land gekommen ist …«
»Vater hat viel von Politik und Militär verstanden. Wäre er doch Politiker oder Journalist oder Tierarzt geworden! Und hätte er seine Finger vom Geschäft gelassen und sich um uns Kinder gekümmert!«
PRINZIPIEN Ich zog mir eine Amöbenruhr zu. Dr. Hirsch machte mir die Konsequenzen klar: »Wir können wenig gegen die Parasiten ausrichten. Neben dem Darm werden sie auch andere innere Organe angreifen. Jetzt ist es bereits die Leber. Herz, Lunge et cetera werden folgen. Unser Klima hier in Israel ist subtropisch, in den Sommermonaten der ideale Nährboden für Amöben …« »Was kann ich tun?« »Nach Europa zurückkehren. In Polen oder Deutschland würden die Parasiten zugrunde gehen.« »Solange ich leben kann, gehe ich nicht zu den Nazis und ihren polnischen Lakaien.« »Prinzipien muss man sich leisten können, Frau Seligmann.«
Seit meinem 13. Lebensjahr hatte ich für andere gearbeitet. Drei Dutzend Jahre hatte ich für meine Eltern und Geschwister geschuftet. Ich hatte sie nach Israel geholt und ihnen ein Haus gekauft. Später hatte ich für Hannah und Rafi gearbeitet und auch für sie ein Heim geschaffen. Zuletzt hatte ich trotz Hannahs Kassandrarufen ein gut gehendes Bistro aufgebaut, das sie und ihr Kind ernährte. Mit 50 wollte ich endlich etwas vom Leben haben und nur tun, was mir gefiel.
»Ohne eure Hilfe sind wir verloren.« Nachdem ich alles erzählt hatte, wandte sich Mutters Blick von mir zu meiner Schwester. »Du musst mich ned so anschaun«, brach Thea endlich die Stille, »der Ludwig hat sich aus eigener Dummheit ins Schlamassel geritten. Drum muss er jetzt allein auch wieder rauskommen.«
1934 bin ich mit einem Überseekoffer zusammen mit Heinrich nach Zion gekommen. Nach knapp zwei Dutzend Jahren kehre ich nach Deutschland zurück. Mit nichts als dem gleichen Koffer.
»Als ihr in Deutschland bei den Nazis gehockt seid, hab’ ich ned ›Schlamassel‹ g’sagt, sondern ich hab’ euch herg’holt«, schrie ich auf.
»Du hast den Eltern g’holfen und dem kleinen Kurti. Ned mir. Ich bin von allein gekommen.« »Ich hab’ dir das Haus gekauft!« »Des hast den Eltern gekauft.« »Kinder, mir sind doch a Familie. Der Ludwig ist in Not. Drum müss’n mir ihm helfen.« »Dann hilf ihm, wenn du kannst, Mutter. Sonst sei still!« »Wir sollten Ludwig und seiner Familie doch unter die Arme greifen«, ließ sich Joel vernehmen.
»Red ned so gscheid daher, Mann! Wenn du so a weich’s Herz hast, Joel, verkauf dei Motorradl und schenk dem Ludzi des Geld …« »Wie viel brauchst du denn, Ludwig?«, erkundigte sich Joel. »Mit 3000 Pfund kommen wir ein Jahr durch …« »Das ist viel Geld, Ludwig.« »Und in einem Jahr geht Ludzis Schnorrerei erst richtig los«, warf meine Schwester ein. »Dafür allein langt dei Motorrad ned. Bald wird mein Herr Bruder noch mehr wollen. So lange, bis von unserem Geld nix mehr da ist.«
ZURÜCK Am frühen Nachmittag brachte uns Kurt als Offizier der Hafenpolizei an Bord der »Arza«. Ich wuchtete unser Gepäck in die Kabine, von der Rafi begeistert war. Besonders gefiel ihm unser Stockbett, auf dem ich ihn oben schlafen ließ, und das Bullauge.
Am späten Nachmittag zog uns ein Schlepper aus dem Hafen auf die offene See. Ich stand mit Hanni und Rafi an der Reling. Wir beobachteten, wie unser Schiff in die im Westen untergehende Sonne stampfte, die das Meer in goldenes Licht tauchte. Hinter uns verschwammen die Konturen Haifas.
»1934 bin ich mit einem Überseekoffer zusammen mit Heinrich nach Zion gekommen. Nach knapp zwei Dutzend Jahren kehre ich nach Deutschland zurück. Mit nichts als dem gleichen Koffer …« »… und mit mir und Rafi«, sprach Hanni gegen die Fahrtbrise an, die ihre vollen Locken kräuseln ließ.
»Ja. Aber ich habe hier nichts Bleibendes geschaffen. Ich habe im jüdischen Land nicht bestanden, weil ich nicht stark genug gewesen bin …« »Verweht! Wir gehen zurück in die alte Heimat, Ludwig. Deutschland ist jetzt unsere Zukunft!«
Aus: »Hannah und Ludwig. Heimatlos in Tel Aviv«. LangenMüller, München, 2020, 416 S., 24 €. Hörbuch gesprochen von Axel Milberg. Abdruck mit freundlicher Genehmigung