Agi Mishol, in Ihrem jetzt auf Deutsch erschienenen Lyrikband ist das Gedicht »Schutzraum« mit dem Datum Oktober 2023 enthalten. Es ist das einzige Gedicht über den Überfall der Hamas und den darauffolgenden Krieg. Darin steht: »Jetzt wo rundherum Tod kriecht (…) verstecke ich mich im Hebräischen.« Ist das Schreiben ein Zufluchtsort in diesen schweren Zeiten?
Ich lebe in einem Moschaw, nicht sehr weit vom Gazastreifen und in Reichweite der Raketen. Damals begann gerade die Saison der Obsternte, wir ernteten Sharon-Früchte und Granatäpfel. Eines Morgens stand ich auf dem Feld, schaute nach oben, der Himmel war wunderschön. Freilich, die Natur hört keine Nachrichten. Ich hatte das Gefühl, dass sich mein Schutzraum in der hebräischen Sprache befindet, zwischen den Konsonanten. Als könnte ich mich unter den Buchstaben verstecken. Übrigens wird dieses Gedicht in drei Sprachen im Jüdischen Museum in München zu lesen sein, in einer Ausstellung zur Erinnerung an den 7. Oktober.
Ihre Eltern waren beide Holocaust-Überlebende. Das deutsche Wort »Lager« kommt in dem hebräischen Zyklus »Besuch zu Hause« vor. Haben Ihre Eltern von jenen Jahren erzählt?
Eigentlich nicht. Meine Mutter war in Auschwitz, mein Vater in einem Arbeitslager. Ich weiß wenig darüber. Man brachte mich nach Israel, damit ich nach vorne blicke. Frei von Neurosen. Ich war die Antwort auf all das, was sie erlebt hatten. Doch Kinder saugen es auf, auch ohne Worte.
Und dennoch schreiben Sie: »Papa, du hast mir beigebracht, auf Deutsch den Erlkönig aufzusagen.« Und weiter: »Und du, Mama, wusstest noch eines von Grimms Märchen.«
Ja, erstaunlich, dass meine Mutter trotz allem, was sie erlebt hatte, stolz war, Deutsch zu sprechen. Hochdeutsch war für sie die Sprache der Kultur. Den Widerspruch erkannte sie nicht. Wenn mein Vater Deutsch sprach, das eher nach Jiddisch klang, korrigierte sie ihn. Ich kann gut Ungarisch und Rumänisch. Deutsch nur wenig, doch ich verstehe einiges. Meine Eltern schätzten die europäische Kultur, besonders die Wiener Operetten wie Johann Strauss’ »Fledermaus«.
Ihre ersten Gedichte wurden Ende der 60er-Jahre publiziert. Blickt man in die hebräische Literaturgeschichte, weiß man, dass Dichterinnen es oft nicht leicht hatten. Sie erfuhren Kritik, Hohn und Zurückweisung wie zum Beispiel Lea Goldberg. Im Vordergrund standen die männlichen Kollegen. Hat sich diese Haltung geändert?
Absolut. Heute gibt es mehr Dichterinnen als Dichter. Aus meiner persönlichen Erfahrung weiß ich, dass Männer in ihrem Arbeitszimmer schreiben, während meine Kolleginnen im Wohnzimmer oder in der Natur dichten.
Die Natur spielt eine zentrale Rolle in Ihrem Werk. Mal Felder, mal Bäume (wie zum Beispiel »Zitronenbaum«) sowie Tiere (»Gänse«, »Hase«, »Tauben«, »Hündin«). Was fasziniert Sie an der Natur?
Ich lebe in der Natur, bin ein Teil der Natur. Meine Straße ist ein Feld. Wir sind Landwirte. Täglich versorge ich auch verwahrloste Hunde und Katzen und engagiere mich in Verbänden für Tierschutz.
In Ihrer Poesie spiegelt sich Sinnlichkeit und Lebensphilosophie, Sehnsucht und Schmerz, aber auch Humor wider. Man erkennt Gespür für Klang und Musikalität.
Ich liebe Musik und spiele Klavier. Jedes Gedicht hat seine eigene Musikalität. Es ist kein Zufall, dass sich die Begriffe Muse und Musikalität lautlich so ähneln.
Sie verwenden hin und wieder auch die Alltagssprache, Slang und Fremdwörter, die man in Israel benutzt, wie beispielsweise T-Shirt oder iPhone. Wie würden Sie die Veränderung in der hebräischen Sprache beschreiben?
Dichter hören jeden Klang und jede Veränderung. Die Sprache ist dynamisch, und wenn man ein neues Wort hört, so möchte man dieses auch benutzen. Das ist unser Weg, die Hand am Puls der Zeit. Jede Sprache verändert sich, aber ich glaube, dass Hebräisch sich noch schneller verändert als andere Sprachen. Junge Israelis haben ihren Slang, es gibt auch Ausdrücke, die in der Armee benutzt werden. Ich habe Enkelkinder und höre jede Menge neuer Wörter. Wenn ich eine Neuigkeit mitbekomme, habe ich Lust, diesen Begriff zu verwenden, ihn in ein Gedicht aufzunehmen.
Wir haben mit Ihrem Gedicht »Schutzraum« angefangen, dem einzigen, das von der gegenwärtigen Lage handelt. Wie sehen Sie es in der Rückschau?
Ich hatte mich damals an Lea Goldberg erinnert, eine Dichterin, die ich sehr verehre. Während des Zweiten Weltkriegs fragte man sie, wieso sie keine politischen Gedichte schreibe. Sie wolle diese nicht schreiben, sagte sie. »Die Kraft der Liebe ist viel größer als die Kraft des Mordens.« Ich teile ihre Meinung. In Kriegszeiten sollten und müssen Dichter über die Natur, das Lachen der Kinder und über die Liebe schreiben. Mein politisches Engagement besteht aus Demonstrationen und anderen Formen des zivilen Protests. Ich habe das Gefühl, dass ich die Dichtung schütze, es ist nur eine Ahnung, ich kann es nicht begründen.
Im November kommen Sie für eine Lesereise nach Deutschland. Was erwarten Sie?
Ich freue mich sehr, bin auch aufgeregt. Besonders gespannt bin ich auf die Begegnung mit den deutschen Lesern und auch darauf, ihre Meinung zu hören.
Mit der israelischen Dichterin sprach Anat Feinberg.
Agi Mishol: »Gedichte für den unvollkommenen Menschen«. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Hanser, München 2024, 112 S., 24 €