Ein Hofeingang in Berlins quirliger Mitte: Zwischen bunten Aufklebern und Graffiti hängt ein Schaukasten des Museums Blindenwerkstatt Otto Weidt, in dem ein großes Plakat für die Dauerausstellung des Hauses wirbt. Daneben kündigt ein kleineres Poster die aktuelle Sonderschau an: Verdrängt. Verfolgt. Vergessen. Berliner Juden im Sport vor und nach 1933.
Das Ausstellungsmotiv ist eine alte Schwarz-Weiß-Fotografie, auf der sich fünf junge Sportler gerade im Laufen messen, auf dem Trikot eines Läufers prangt das Emblem des Jüdischen Turnvereins Bar Kochba Berlin.
»Ich habe das Logo sofort erkannt«, erinnert sich Shiri Latner, »von den Fotos meines Großvaters!« Die Israelin besuchte im April gemeinsam mit ihrem Mann zum ersten Mal Berlin, um ihren 40. Geburtstag zu feiern. »Freunde hatten mir ein Hotel am Hackeschen Markt empfohlen«, so Shiri.
blindenwerkstatt Das Hotel liegt in unmittelbarer Nähe des Museums. Dessen Besuch allerdings hatte sie eigentlich gar nicht eingeplant. »Meine Mutter hatte mir kurz vor unserem Abflug noch eine Liste mit Berlin-Tipps gegeben, darunter auch die ehemalige Blindenwerkstatt, aber die meisten ihrer Tipps hatten mit dem Holocaust zu tun. Ich wollte mir lieber schöne Dinge ansehen«, lacht Shiri.
Gleichwohl elektrisierte sie das Museumsposter: »Mein Deutsch ist nicht sehr gut, doch ich verstand, dass es um eine Ausstellung gehen musste, und war mir augenblicklich sicher, dass mein Großvater ein Teil davon war.« Sofort rief sie ihre Mutter Lea an, die die Aufregung ihrer Tochter nicht gleich teilen konnte. »Ich war mir gar nicht sicher, dass sie ein Foto meines Vaters finden würde«, erklärt Lea Latner, die in Haifa lebt.
Am nächsten Tag, bei der ersten Gelegenheit, besuchte Shiri das Museum. »Ich rannte fast durch die Räume, was mir ein wenig peinlich war angesichts der Holocaust-Thematik, aber ich war so gespannt«, sagt sie. Im Zimmer mit der Wechselausstellung folgte zunächst die Ernüchterung: »Mir war gar nicht klar, dass es so viele jüdische Athleten gab«, für einen kurzen Moment sei ihre Zuversicht verschwunden. Aufmerksam ist sie die großen Farbtafeln entlang gelaufen, auf denen die Biografien und Fotos elf prominenter und weniger berühmter jüdischer Sportler abgebildet sind.
bar kochba Beim Berliner Athleten Felix Simmenauer wurde sie schließlich fündig: Zwei kleine Schwarz-Weiß-Bilder zeigten Simmenauer inmitten seiner Bar-Kochba-Kollegen – darunter Shiris Großvater Oscar »Oshi« Kurz. »Ich schickte meiner Mutter mit dem Handy sofort ein Foto davon und rief sie an. Sie hat mir dann bestätigt, dass wirklich mein Opa zu sehen war.« Jetzt ließ sich auch Lea Latner vom Enthusiasmus ihrer Tochter anstecken. Sie schrieb dem Museum eine E-Mail – Betreff: »maine fater in a bild«.
Die Mail landete schließlich bei Simon Becker, der die Ausstellung mitentwickelt hatte und im Vorstand des Museumsfördervereins »Blindes Vertrauen« sitzt. Der antwortete noch am selben Tag, für ihn ist die zufällige Entdeckung Shiris ein Glücksfall. »Durch Shiri und Lea können wir die Geschichte fortschreiben, denn über viele der Sportler, die auf den Fotos zu sehen sind, wissen wir gar nichts – auch die Kurz-Brüder waren uns nicht bekannt.«
Denn auf den Bildern ist nicht nur Oscar Kurz abgebildet, sondern auch sein älterer Bruder Georg, ebenfalls ein Bar-Kochba-Athlet. Im Verein waren die Brüder nur als »Kurz eins« und »Kurz zwei« bekannt. Beide wurden in Berlin geboren, Georg 1904 und Oscar ein Jahr später.
vereine Obwohl die meisten jüdischen Leistungs- und Freizeitsportler vor 1933 noch Mitglieder in weltanschaulich neutralen Vereinen waren, zeigten auch zu jener Zeit einige Vereine bereits antisemitische Tendenzen. Es gab noch gar keine entsprechenden Gesetze, doch die Vereine schlossen ihre jüdischen Athleten aus. »Das ist zum Beispiel eine Tatsache, die mir vorher nicht bewusst war«, beschreibt Simon Becker die Recherche zur Ausstellung.
Infolgedessen und insbesondere im Zuge der »Arisierung« nach 1933 erlebten die jüdischen Vereine einen starken Zulauf, darunter auch Bar Kochba Berlin. 1898 gegründet, war er der erste jüdische Sportverein im damaligen Kaiserreich und Ausgangspunkt der Makkabi-Bewegung aus zionistischen Turn- und Sportvereinen. Die körperliche Betätigung sollte die Mitglieder auf das entbehrungsreiche Leben in Palästina vorbereiten – und bot gleichzeitig etwas Ablenkung von der zunehmend judenfeindlichen Stimmung im Land.
rettung Für manche wurde der Sport sogar zur Rettung, so auch für Oscar Kurz. »Nach einem Wettkampf in Berlin ging er mit seiner Mannschaft in ein Café«, erzählt Lea Latner. »Als sie rauskamen, wurden sie von einer Gruppe junger Nazis angepöbelt, bespuckt und bedroht.« Für Oscar Kurz ein Schlüsselerlebnis, das ihn überzeugte, Deutschland zu verlassen.
Mit einem Touristenvisum reiste er am 5. Mai 1933 ins damalige Palästina, über einen Umweg nach Beirut bekam er schließlich eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung. 1935 nahm er als Schiedsrichter an der zweiten Makkabiade in Tel Aviv teil. Er zog nach Haifa, heiratete Lotti Porter und wurde Vater zweier Kinder: Daniel und Lea. Diese ist sich heute sicher: »Der Sport hat meinem Vater das Leben gerettet – und ihn ein Leben lang begleitet.« In Israel arbeitete Oscar Kurz als Sportlehrer und war lange bei Makkabi aktiv, zunächst als Sportler, dann als Kampfrichter.
Seine Sportlichkeit habe die ganze Familie angesteckt, meint Lea. Ihre Tochter Shiri ergänzt, dass zahlreiche Pokale, Medaillen und Bilder die Zimmer ihres Großvaters geschmückt haben und man seinen Erzählungen angemerkt habe, wie wichtig ihm die Zeit bei Bar Kochba Berlin stets gewesen ist.
»Er hat uns Enkel immer auf den Schoß genommen und sich mit uns gemeinsam die Fotos aus seiner Vereinszeit angesehen«, erzählt sie. Nun bekomme sie eine Gänsehaut bei dem Gedanken, dass es eben jene Gespräche mit ihrem Opa waren, die sie auf den Zufallsfund in Berlin vorbereitet hätten: »Hätte er mir nicht so oft die Bilder gezeigt, dann hätte ich das Vereinslogo auf dem Ausstellungsplakat gar nicht erkannt.«
Besonders stolz war ihr Vater auf seine Zeiten beim Laufen gewesen, erinnert sich Lea: Lange Jahre hat er bei der Makkabiade den Rekord im Staffellauf gehalten. Der Mailwechsel mit Simon Becker hatte die 68-Jährige animiert, die alten Kisten ihres Vaters zu durchsuchen, der 1991 starb. »Ich fand viele Dinge, über die ich überhaupt nichts wusste, so etwa seinen Teilnehmerausweis für die Makkabiade.« Auch Aufzeichnungen über seine sportlichen Bestleistungen hat sie aufgespürt: So hatte er 7,10 Meter im Weitsprung erreicht und war die 100 Meter in 10,9 Sekunden gelaufen – eine Zehntelsekunde langsamer als sein Bruder Georg. »Mein Onkel war immer etwas schneller, aber mein Vater hat dafür mehr Sportarten betrieben«, erzählt Lea.
recherche Die Recherche, die Shiri durch ihre Zufallsentdeckung in Berlin angestoßen hat, macht die gesamte Familie sehr glücklich: »Ich bin begeistert, dass nun meines Vaters gedacht wird.« Ihre Tochter fügt hinzu, dass bereits einige der Medaillen ihres Opas in einem Museum in Israel ausgestellt werden. Dass sie nun 80 Jahre nach seiner Flucht aus Deutschland Spuren von ihm in Berlin gefunden hat, habe allerdings noch einmal eine ganz spezielle Bedeutung: »Eine für ihn unglaublich wichtige Zeit wurde abrupt unterbrochen – aber etwas von ihm ist geblieben.«
Für Shiri haben die Fotos ihren Berlinbesuch, der eigentlich eine Geburtstagsreise war, komplett geprägt: »Ich fühlte mich danach wie im Himmel.« Auch ihre Mutter ist sich sicher, dass ihre Tochter sich ein Leben lang daran erinnern wird: »Das wird für sie immer eine ganz besondere Auslandsreise bleiben.«
Die beiden haben Simon Becker zahlreiche Fotos und Dokumente geschickt, darunter auch ein aktuelles Familienfoto. Über dieses freut sich Becker ganz besonders: »Wenige konnten entkommen, so auch Oscar Kurz. Aber das Bild zeigt, was für eine große, glückliche Familie daraus geworden ist.« Im Katalog zur Ausstellung, der spätestens im August erscheinen soll, wird die Geschichte des unglaublichen Zufalls, der Shiri zu ihrem Großvater führte, einen eigenen Abschnitt bekommen. Darin sind dann nicht nur Fotos aus dem Familienalbum der Latners zu sehen, sondern auch einige biografische Informationen der Kurz-Brüder und Auszüge der E-Mail-Korrespondenz, die Shiri und Lea mit Simon Becker führten.
Für Becker haben diese Kommunikation und ihr Ergebnis durchaus symbolischen Wert: »Das ist eine Möglichkeit, ein Band des Erinnerns zwischen Berlin und Israel zu weben – oder zumindest einen Teil dazu beizutragen.«
Die Ausstellung »Verdrängt. Verfolgt. Vergessen. Berliner Juden im Sport vor und nach 1933« ist im Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt (Rosenthaler Str. 39, 10178 Berlin) zu sehen. Im August wird ein umfangreicher Katalog zur Ausstellung erscheinen.