Wuligers Woche

Mein liebster Antisemit

Rudyard Kipling, T. S. Eliot oder Tschaikowski: Warum gerade wir Juden zwischen Werk und Autor trennen sollten

von Michael Wuliger  27.08.2020 09:22 Uhr

Rudyard Kipling (1865–1936) Foto: dpa

Rudyard Kipling, T. S. Eliot oder Tschaikowski: Warum gerade wir Juden zwischen Werk und Autor trennen sollten

von Michael Wuliger  27.08.2020 09:22 Uhr

Die Cancel Culture haben eigentlich wir Juden erfunden. In einem Mischna-Kommentar aus dem 15. Jahrhundert wird den Kindern Israels die Lektüre »des Griechen Aristoteles und seiner Genossen« untersagt, ebenso »Geschichten heidnischer Könige, Liebesgedichte und erotische Schriften« sowie generell »Werke, die weder Weisheit noch Nutzen beinhalten, sondern Zeitverschwendung sind«. So Rabbi Obadja Bertinoro (1465–1515), der im letzten Satzteil wie ein früher Marcel Reich-Ranicki klingt.

Wie das bei Juden so ist, hat sich natürlich kaum jemand an das rabbinische Verbot gehalten. Genauso wie heute die wenigsten die zeitgenössische Version des Banns beachten, Werke von Antisemiten zu boykottieren. Gewiss, Richard Wagners Musik ist in Israel noch immer tabu. Chopin, der ein genauso rabiater Judenhasser war, wird allerdings problemlos aufgeführt.

horror-fans Wer sich in der russischen Kultur zu Hause fühlt, verzichtet nicht auf Dostojewski, in dessen Romanen Juden nicht gerade liebevoll porträtiert werden. Horror-Fans schwören auf den Hitler-Bewunderer H. P. Lovecraft. Und bei jedem WIZO-Ball schwebt im Saal das Aroma von Chanel No 5, wiewohl Madame Coco eine üble Nazi-Kollaborateurin war.

Mein liebster Antisemit ist Rudyard Kipling, der – ganz intersektional – zudem noch der Hofdichter des britischen Kolonialismus war.

Mein liebster Antisemit ist Rudyard Kipling, der – ganz intersektional – zudem noch der Hofdichter des britischen Kolonialismus war. »Israel ist eine Rasse, von der man sich fernhalten sollte«, schrieb er in seiner Autobiografie kurz vor seinem Tod 1936. Albert Einstein war für den Schriftsteller »nominell ein Schweizer, in Wirklichkeit ein Hebräer«, der jüdische Indienminister Lord Montagu »ein Itzig, dem rassisch das britische Empire so egal ist wie Kaiphas (dem jüdischen Hohepriester, Anm. d. Redaktion) es Pilatus war«.

Nicht schön, solche Bemerkungen, von denen es noch unzählige ähnliche gibt. Und dennoch hängt über meinem Schreibtisch ein Ausdruck meines Lieblingsgedichts, Kiplings »If«: »If you can keep your head when all about you / Are losing theirs and blaming it on you …«, beginnt es. (In der deutschen Fassung von Lothar Sauer: »Wenn du den Kopf bewahrst, ob rings die Massen / Ihn auch verlieren und nach Opfern schrein …«).

propheten Für mich fasst das prägnant die jüdische Erfahrung der vergangenen 2000 Jahre zusammen, selbst wenn der Dichter das wahrscheinlich nicht gern gehört hätte. Ich liebe auch Kiplings düsteres Poem »The Gods of the Copybook Headings«, das in Stil und Inhalt an die Mahnungen der biblischen Propheten erinnert und sich gut als Jom-Kippur-Predigt eignen würde, vor allem in orthodoxen Synagogen. Wäre nur der Verfasser kein Antisemit gewesen.

Zum Glück habe ich aus dem Deutschunterricht der Oberstufe noch im Gedächtnis, dass man zwischen Werk und Autor trennen sollte. Rudyard Kipling bleibt in meinem Bücherschrank, direkt neben T. S. Eliot, der ebenfalls Antisemit (und ein guter Freund von Groucho Marx) war. Auch bei Tschaikowski höre ich weiter über dessen Judenhass weg. Nur Lisa Eckhart boykottiere ich. Egal, ob antisemitisch oder nicht: Ihre Witze sind flach.

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