Ich blicke aus dem Auto auf einen Bus, der am Minsker Bahnhofsvorplatz hält. Draußen ist es dunkel, es ist später Abend. Die im Bus sitzenden Menschen fahren vielleicht nach einem Wochenendausflug oder einem Besuch bei Freunden nach Hause. Morgen beginnt für sie eine neue Arbeitswoche.
Wir aber fahren nicht nach Hause. Wir haben gerade unsere leere Wohnung in einem Außenbezirk im Südwesten der weißrussischen Hauptstadt verlassen. In den nächsten Tagen erwartet uns nicht der gewohnte Alltagstrott, sondern ein völliger Neubeginn.
diktatur Es ist Sonntag, der 10. August 1997. Wir – das sind meine Eltern, mein älterer Bruder und ich – werden von einem Bekannten zum Minsker Bahnhof gebracht. Auch Tante und Onkel, Cousin und Cousine sind mit schweren Taschen zum Bahnhof gekommen. An diesem Augustabend wandern wir aus Belarus aus.
Jede Meldung, jeder Bericht über Belarus berührt mich, auch wenn ich noch so sehr versuche, dem Thema keinen Vorrang zu geben.
1996 erfuhr mein Vater von der Möglichkeit, als jüdischer Kontingentflüchtling nach Deutschland zu kommen. Er ergriff die Gelegenheit, da er vor allem für uns Kinder keine Zukunft in Lukaschenkos Diktatur sah. So sitzen wir, zwei Familien, etwa ein Jahr später im Zug nach Frankfurt am Main.
Die Fahrt dauert fast eineinhalb Tage. Der Wechsel der Zugräder an der weißrussisch-polnischen Grenze bleibt ebenso in vager Erinnerung wie der unterirdische Bahnhof von Warschau. In Polen sehe ich zum allerersten Mal Graffiti. In Görlitz begegnen wir zum allerersten Mal Deutschen – und zwar Grenzbeamten.
Regionalzug Am 12. August erreicht der Zug vormittags den Frankfurter Hauptbahnhof. Wir werden weder warmherzig noch kühl empfangen – nämlich gar nicht. Mit einem Regionalzug geht es weiter ins ost-hessische Schlüchtern, wo die Eltern sich anmelden müssen. Der Eintritt in das neue Leben missglückt beinahe. Als der Regionalzug nach mehr als einer Stunde Fahrt in Schlüchtern hält, werden die Erwachsenen nervös. Die Tür geht nicht auf! Was dann geschieht, versetzt uns alle in Staunen.
Wir hören jemanden auf Russisch sagen: »Drücken Sie doch den Knopf!« Es gibt also andere russischsprachige Menschen auf diesem fremden Planeten namens Deutschland! Wir können aussteigen, und wenige Stunden später beziehen wir unsere engen Zimmer in einem Übergangswohnheim am Rande des Kurstädtchens Bad Soden-Salmünster. Wir sind, zumindest physisch, in Deutschland angekommen.
Die Sowjetunion kollabierte, als ich sieben Jahre alt war. Auf einmal waren wir unabhängig.
In den 90er-Jahren in Belarus aufzuwachsen, war eine aufregende Sache. Die Sowjetunion kollabierte, als ich sieben Jahre alt war. Auf einmal fanden wir uns in einem unabhängigen Staat, der Republik Belarus, wieder. Das Land suchte damals, wie eigentlich alle ehemaligen Sowjetrepubliken, nach seiner nationalen Identität. Die belarussische Sprache und Geschichte kamen in Mode.
Auch an meiner Schule, wo einige engagierte Lehrerinnen und Lehrer nichts mehr vom autoritären Muff des sowjetischen Schulsystems wissen wollten, galt das Belarussische als chic.
Literatur Und so interessierte ich mich im Geschichtsunterricht für das frühneuzeitliche Großfürstentum Litauen und die spätere polnisch-litauische Adelsrepublik, auf deren Staatsgebiet sich das heutige Belarus befand. Im Literaturunterricht lasen wir Autoren der belarussischen Nationalbewegung des frühen 20. Jahrhunderts wie Janka Kupala, aber auch Klassiker der Nachkriegsliteratur wie Wassil Bykau.
Ich habe mich damals ein Stück weit in diese neu entdeckte belarussische Welt geflüchtet. Denn sie war der größtmögliche Kontrast zu den wirtschaftlichen Entbehrungen der 90er-Jahre und der allgemeinen Tristesse unserer Plattenbausiedlung. Das Nationale war anfangs auch eine Gegenerzählung zu Alexander Lukaschenko, der seit seiner überraschenden Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 vor allem die parallel grassierende Sowjetnostalgie bediente.
Dass das nationale Narrativ den jüdischen Beitrag zur belarussischen Kultur und Geschichte weitgehend ausklammerte, wurde mir erst später bewusst. Belarus, das sind nicht nur litauische Fürsten, polnische Freiheitskämpfer und weißrussische Dichter, das sind auch Künstler wie Marc Chagall, der seiner Geburtsstadt Witebsk entscheidende Prägungen und Inspirationen verdankte.
Minsk Belarus war einmal Teil des sogenannten Ansiedlungsrayons im Westen des Russischen Zarenreiches, in dem sich Juden bis zur Revolution 1917 ansiedeln durften. Bis zum Zweiten Weltkrieg hatte Minsk einen sehr hohen jüdischen Bevölkerungsanteil.
Seit 2001 war ich nicht mehr in Belarus zu Besuch.
Das alles wurde mir vielleicht erst in Deutschland klar, als mein belarussischer Geschichtsüberschwang verflog. Dass die nationalsozialistischen Besatzer in Minsk ein Ghetto einrichteten und auch viele Frankfurter Juden dorthin verschleppten, wird mir jedes Mal schmerzhaft bewusst, wenn ich an der Gedenkstätte Neuer Börneplatz vorbeilaufe, die mit etwa 11.900 Gedenkblöcken an die in der Schoa ermordeten Juden aus Frankfurt erinnert. Immer wieder lese ich unter den Namen, Geburts- und Todesdaten die Ortsangabe »Minsk«.
irrtum Ich lebe seit nunmehr 23 Jahren in Deutschland. Das anfängliche kindliche Staunen über doppelstöckige Züge, die ihre Türen erst auf Knopfdruck öffnen, wich allmählich Alltagsroutine. In all diesen Jahren dachte ich, dass ich mich emotional von Belarus loslösen kann.
Denn dort habe ich, bis auf vereinzelte Facebook-Freunde und entfernte Verwandte, keine Kontakte mehr. Seit 2001 war ich nicht mehr in Belarus zu Besuch. Ich dachte, dass mich die Dauerschleife der Lukaschenko-Diktatur – Gewalt gegen Demonstranten und Einsperrung von Oppositionellen nach jeder sorgsam manipulierten Präsidentschaftswahl – irgendwann einfach nicht mehr interessiert. Ich habe mich geirrt.
Jede Meldung, jeder Bericht über Belarus berührt mich, auch wenn ich noch so sehr versuche, dem Thema keinen Vorrang zu geben. Früher war es vor allem mein Vater, der mich gelegentlich mit Artikeln aus weißrussischen Onlinemedien versorgte. Hierzulande wurde Belarus lange übersehen. »Die letzte Diktatur Europas« war das einzige Stichwort, das man damit verband. Doch seit der jüngsten Präsidentschaftswahl, die Lukaschenko, nach allem, was man weiß, verloren haben muss, blicken auch deutsche Print- und Onlinemedien, Fernseh- und Radiosender intensiv auf Belarus. Sie sorgen für eine nie da gewesene Sichtbarkeit.
In Deutschland bin ich längst angekommen. An Belarus hänge ich trotzdem immer noch.
Und die Ereignisse lassen mich nicht kalt. Allein der Gedanke, dass die Belarussen ihren langjährigen Diktator abgewählt haben könnten, raubt mir den Atem. Wenn man bedenkt, wie stabilitätsversessen die Bürger von Belarus lange waren, ist das eine Revolution.
Die im ganzen Land protestierenden Menschen schwenken weiß-rot-weiße Fahnen, seit 1991 für wenige Jahre offizielles Symbol des unabhängigen Belarus. Lukaschenko ließ Weiß-Rot-Weiß gegen eine leicht abgewandelte Flagge der Belorussischen Sowjetrepublik ersetzen. Das waren die Identitätskämpfe der 90er-Jahre. Die heutige Situation in Belarus kommt mir wie ein fernes Echo der ideologisch aufgeheizten Zeit vor, die ich noch vor Ort miterlebte.
haltung Vieles hat sich seitdem gewandelt. Eine neue, jüngere Generation geht jetzt in Minsk und anderen Städten auf die Straße. Dieses junge Belarus, das um seine Zukunft kämpft und dabei oft seine körperliche Unversehrtheit riskiert, bewundere ich zutiefst. Auch die streikenden Arbeiter der Staatsbetriebe zeigen Haltung.
All diese Menschen setzen sich unverstellt und ehrlich für ihre Freiheit ein. Für nicht wenige Deutsche ist Freiheit zu einer hohl klingenden Parole geworden, die man mit dem sogenannten Neoliberalismus oder gescheitertem Demokratieexport assoziiert. Solchen Zynismus können sich die Menschen in Belarus nicht leisten. Ihre Anliegen sind elementar.
Ich fiebere mit diesen Menschen, bin auf ihrer Seite, spüre aber gleichzeitig die räumliche und manchmal auch geistige Distanz. Keine Frage, Belarus ist mir, seit wir das Land am 10. August 1997 verlassen haben, fremd geworden.
Ich habe keine Vorstellung von den heutigen Lebensumständen meiner damaligen Mitschüler. Ich bin auch mental längst in Deutschland angekommen. Aber mein Herz, es schlägt trotz allem noch immer für Belarus.