Frau Meyer, welche Erinnerungen haben Sie an Marc Chagall?
Er war weniger ein Großvater als ein Künstler, also ging er nicht unbedingt mit seinen Enkeln in den Zirkus, obwohl er in den 20er-Jahren viele Zirkusbilder gemalt hat. Marc Chagall war ein Künstler, der ein Großvater war. Seine hohe Schaffenskraft brachte es auch mit sich, dass wir ihn nicht so oft gesehen haben. Wenn, dann stets in Verbindung mit einem künstlerischem Anlass.
Hat er Sie porträtiert?
Es gibt ein einziges Bild, auf dem die drei Enkel auf dem Sofa sitzen. Ein Meisterwerk ist es nicht unbedingt. Aber das ist nicht so wichtig. Zumal es bei Chagall nie sehr wichtig ist, die Person hinter dem Abgebildeten zu erkennen, da es ihm immer um die tiefen und wahren Werte des Menschen ging.
Auch Sie haben sich ganz der Kunst verschrieben.
Wir Enkel sind in Paris geboren und wuchsen in der Schweiz auf. Unser Vater Franz Meyer war zuerst Direktor der Kunsthalle Bern, später Direktor des Kunstmuseums Basel. Im benachbarten Freiburg im Breisgau studierte ich Germanistik und Philosophie und später zusätzlich Theaterwissenschaft in Köln. Heute bin ich vor allem als Vize-Präsidentin des Comité Marc Chagall, das die Erben Chagalls vertritt, tagtäglich aktiv. Das Comité prüft Werke auf Echtheit, die aus der ganzen Welt zur Begutachtung geschickt werden, wir arbeiten am Archiv, begleiten oder beraten Ausstellungen und kümmern uns um die Reproduktionsanfragen weltweit.
Worin, glauben Sie, liegt der besondere Reiz von Marc Chagalls Werken?
Es gibt viele Gründe, warum Chagall so viele Menschen anspricht. Einer ist auch die Eingebundenheit des Menschen in die Natur, die Verbindung Mensch–Tier. Ich denke, Chagall ist nicht so weit entfernt von der Ökologie.
Vor 1933 hingen in Deutschland 58 Werke Chagalls in privaten und öffentlichen Sammlungen. Dann galt er als »entartet«.
Damit war er ja nicht alleine. Der »Gelbe Rabbiner«, ein Werk, das bis dahin der Kunsthalle Mannheim gehörte, wurde in Berlin als Exponat »entarteter« Kunst präsentiert.
Auch in der Sowjetunion war Chagall selten zu sehen. Jetzt gibt es zum 125. Geburtstag eine große Ausstellung in der Moskauer Tretjakow-Galerie.
Als Chagall Russland 1922 aus politischen Gründen verließ, konnte er zum Glück viele seiner Werke mitnehmen. Andere wurden konfisziert und auf verschiedene Museen verteilt. So finden sich heute Bilder von ihm auch in Astrachan und Kasachstan. Es ist wichtig, sich stets zu vergegenwärtigen, dass der Ankauf oder das Aufbewahren eines Werks in bestimmten politischen Situationen viel Mut fordert. Denken wir nur zum Beispiel an die Arbeit »Das jüdische Theater«, die – dank der Konservatoren – unter einem falschem Label während Jahrzehnten im Depot der Tretjakow-Galerie in Moskau überlebt hat, bis die Enthüllung nach dem Mauerfall möglich war.
Das Gespräch führte Brigitte Jähnigen.