Frau Meijer-van Mensch, Sie sind seit dem 1. Februar Programmdirektorin des Jüdischen Museums Berlin. Welche Schwerpunkte wollen Sie in den kommenden Jahren setzen?
Mir geht es vor allem darum: Wie erfassen und dokumentieren wir die Gegenwart, und was bedeutet jüdische Gegenwart heute?
Bei diesem Thema klafft in der Dauerausstellung bisher eine Lücke.
Ja, das kann man so sagen! Das ist eine Lücke, die das Museum natürlich jetzt schon versucht zu schließen. Aber ich denke frei nach Jürgen Habermas, dass wir eine Art avantgardistischen Spürsinn für Relevanz entwickeln müssen. Demografisch hat sich die jüdische Gemeinschaft in den vergangenen Jahrzehnten stark entwickelt, sie ist sehr heterogen, und ein Museum kann und sollte das thematisieren. Darauf freue ich mich sehr. Wenn Sie nach meinen programmatischen Schwerpunkten fragen, würde ich viel stärker in Richtung Gegenwart gehen wollen, als es bisher schon der Fall ist.
Sie wollen das aktuelle jüdische Leben in Deutschland aufgreifen. Wen meinen Sie damit?
Ich würde mich nicht nur auf die Gemeinden beschränken. Ich würde gerne den Pluralismus der gesamten jüdischen Community in Deutschland abbilden, die natürlich Gemeinde ist, aber auch viel mehr als Gemeinde. Die Frage, wer dazugehört und wer nicht, könnte man thematisch aufgreifen: Sind es nur Menschen, die laut Halacha als Juden gelten? Was ist mit Zuwanderern aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion oder andere, die »nur« einen jüdischen Vater haben? Warum führen wir immer noch solche schwierigen Diskussionen darüber? Und was ist die Rolle des Museums dabei?
Wollen Sie mit jüdischen Gemeinden in Berlin und anderen Städten zusammenarbeiten?
Ja, natürlich. Eine meiner Kolleginnen war neulich in Dresden, um Objekte zu suchen und mit Leuten zu sprechen. Der nächste Termin ist in Regensburg. Natürlich beobachten wir eine Pluralität: Schoa-Überlebende, sogenannte Russen – obwohl ich diesen Begriff schwierig finde– und Israelis. Ich glaube sehr stark an Netzwerke, an die Zusammenarbeit mit jüdischen Gemeinden und Schulen, Universitäten und Institutionen wie dem Centrum Judaicum. Aber darüber hinaus gibt es auch eine nichtjüdische Welt, die sich sehr stark für jüdische Themen interessiert, wie zum Beispiel die Berlin-Ausstellung im Humboldt-Forum. Ich bin sehr aufgeschlossen für unterschiedliche und vielleicht auch entgegengesetzte Gruppen und Gruppierungen. Ich möchte niemanden ausschließen, und ich hoffe, dass ich das niemals tun werde.
Sie haben Geschichte, Jüdische Studien und Museologie in den Niederlanden, Jerusalem, Berlin und Frankfurt/Oder studiert und am Jüdischen Historischen Museum Amsterdam gearbeitet. Wird die neue Dauerausstellung in Berlin auf die Konzepte anderer jüdischer Museen Europas Bezug nehmen?
Die jüdischen Museen sind europaweit sehr gut vernetzt. Wir konzipieren gemeinsam Ausstellungen und geben sie auch weiter. Was ich spannend finde, ist die Frage: Was sammeln wir eigentlich? Inwieweit ergänzen und überschneiden sich unsere Sammlungsprofile? Sollte es so etwas wie Sammlungsmobilität geben, sollten wir uns gegenseitig Dauerleihgaben zur Verfügung stellen? Ich habe zwei Seelen in meiner Brust: Auf der einen Seite finde ich den Bildungsauftrag und die Akademieprogramme sehr spannend und wichtig. Aber auf der anderen Seite gibt es auch das »Backoffice«, das sich im Verborgenen abspielt und für mich eine ebenso große Liebe ist. Das ist für die Besucher auf den ersten Blick nicht anschaulich. Aber es ist das Fundament unserer Arbeit. Denn ohne Sammlung gibt es kein Museum.
Zwei Schabbatleuchter, eine Besamimbüchse und ein Kidduschbecher – das ist das Klischee von Exponaten in einem jüdischen Museum. Ist es das, was Besucher wirklich sehen wollen?
Dieser Frage geht noch eine voraus: Wer sind unsere Besucher, und was erwartet sie? Dieses Museum hat eine aufklärerische Funktion – und ein großes Publikum, das sich kaum mit jüdischen Themen auseinandersetzt. Viele Leute wissen gar nicht, dass wir noch da sind, dass wir nicht alle tot sind. Ein Schwerpunkt der neuen Dauerausstellung wird sein, jüdische Religion in ihrer ganzen Vielfalt zu zeigen, ohne zu behaupten: »Das machen wir alle so.« Denn meistens ist es doch etwas ganz Privates, wie man die Tradition lebt. Es geht darum, dieses auf eine niederschwellige Art zu zeigen. Daher zeigen wir auch jüdische Gegenwart und moderne Judaica.
Welche?
Zum Beispiel nicht nur traditionelle Schabbatleuchter, nicht nur Silberkitsch aus dem 19. Jahrhundert, sondern auch Kultgegenstände, die von zeitgenössischen Künstlern entworfen wurden.
Einer Ihrer Schwerpunkte wird das Kindermuseum sein. Wann ist die Eröffnung geplant?
Die Eröffnung ist für das Jahr 2019 geplant. Das Oberthema ist die Arche Noah – eine niedrigschwellige Einführung in einen Dialog über fundamentale ethische Fragen in den drei monotheistischen Religionen: Wie gehen wir miteinander um? Was bedeutet Gerechtigkeit? Was bedeutet Nachhaltigkeit in einer Zeit, in der diese Fragen wichtiger sind denn je? Wir sind ja hier in Kreuzberg, und für muslimische Kinder eignet sich dieses Thema, das auch im Islam sehr bekannt ist, besonders gut für ein erstes Kennenlernen des Judentums.
Wollen Sie die Arche Noah für die Kinder »nachbauen«?
Wir sind jetzt schon so weit, dass wir eine Art Schiff haben, aber es sieht etwas anders aus, als sich die meisten Menschen ein Schiff vorstellen. Noah selbst als Person wird man nicht finden, aber die Kinder können Noah sein – und sich auch in verschiedene Tiere, also in unterschiedliche Perspektiven, hineinversetzen. Noah war ein Zaddik, ein Gerechter in einer Zeit, die nicht gerecht war. Das kann Kinder inspirieren, aktiv zu werden und ihre eigene Stärke zu finden.
Spielt auch die Geschichte vom Noachidischen Bund eine Rolle?
Ja, denn es geht um den Bund, den Gott mit der ganzen Menschheit geschlossen hat – was eine tolle Aussage ist. Vor allem, wenn man interkulturell und interreligiös vorgehen will. Es geht also nicht ausschließlich um den Bund zwischen Gott und den Juden.
Für welche Altersgruppen ist das Kindermuseum gedacht?
Unser Zielpublikum reicht von drei bis zehn Jahren. Aber wir werden auch ein Angebot für jüngere und ältere Begleitpersonen haben.
Jugendliche und Schulklassen werden also weiterhin die Dauerausstellung besuchen – wann soll die neue Version eröffnet werden?
Im Jahr 2019. Ich bin sehr froh und dankbar, dass Cilly Kugelmann, deren Nachfolge ich als Programmdirektorin antreten darf, federführend als Beraterin für die neue Dauerausstellung zuständig sein wird. Sie wird im Team für die Inhalte verantwortlich sein, und ich werde einen museologischen Beitrag leisten.
Was sind die nächsten Highlights?
Am 30. März eröffnen wir eine Ausstellung mit der Unterzeile »Perücke, Burka und Ordenstracht«. Es geht um Kopfbedeckungen im Judentum, Christentum und Islam – ein sehr aktuelles Thema. Und in der Umbauphase, bis die neue Dauerausstellung aufgebaut ist, werden wir ab Dezember 2017 eine große Ausstellung über Jerusalem aus interreligiöser Sicht zeigen.
Sie kennen das Jüdische Museum Berlin seit seinen Anfängen. Was hat sich im Lauf der Jahre verändert?
Ich habe damals im Team mitgearbeitet, das die erste Dauerausstellung konzipiert hat. Für mich ist das ein Kreis, der sich schließt. Das ist etwas, das man nur einmal miterleben darf, wenn man Glück hat: ein Haus, das sich findet, und ein Haus, das sich weiterentwickelt und mit dem Kindermuseum auch wieder etwas Neues konzipiert.
Wie sehen Sie das jüdische Leben in Berlin? Haben Sie schon Ihre eigene »jüdische Ecke« gefunden?
Ich genieße den Pluralismus und die Heterogenität sehr. Ich glaube, das ist gerade die Stärke – obwohl man das vielleicht eher von außen als von innen so wahrnimmt. Für mich selbst ist das Jüdische etwas, das man im familiären Kontext feiert und erlebt. Ich fahre dazu gerne nach Hause, also nach Amsterdam. Aber ich wohne jetzt in Pankow, und die Synagoge Rykestraße ist recht nah. Ich könnte mir vorstellen, dass ich dort ab und zu auftauchen werde. In den Niederlanden haben wir keine Einheitsgemeinde. Ich weiß nicht, ob eine Einheitsgemeinde Probleme löst oder Abspaltungen sogar fördert. Aber die Idee finde ich schön.
Ist das jüdische Leben in den Niederlanden von unserem sehr verschieden?
Jüdisches Leben in Deutschland hat seit 1945 eine schwierigere Identität als in den Niederlanden. Dort haben wir ein Verhältnis zum »Niederländisch-Sein«, das auch nicht unkompliziert ist, aber anders als in Deutschland. Das Jüdischsein in den Niederlanden ist einer von vielen Aspekten der eigenen Identität. Hier in Deutschland wird es zwangsläufig vor allem durch die Fremdwahrnehmung von außen zu etwas Belastendem, das zwischen Menschen stehen kann. Früher, als ich hier gewohnt habe, dachte ich manchmal, ich möchte gar nicht über dieses Thema reden. Das Image des Jüdischen hat sich in Deutschland noch nicht entspannt. Aber ich hoffe sehr, dass auch in Deutschland eine Normalisierung eintritt. Ich weiß nicht, wie lange das dauert. Aber als Programmdirektorin des Jüdischen Museums Berlin würde ich gerne daran mitwirken.
Mit der JMB-Programmdirektorin sprach Ayala Goldmann. Informationen zum Jüdischen Museum unter www.jmberlin.de