So viel jüdische Vielfalt wie heute gab es noch nie im Deutschland der Nachkriegszeit. Grund dafür war nicht einfach nur die Zuwanderung von Zehntausenden Juden aus der ehemaligen Sowjetunion oder der Zuzug von Israelis nach Berlin. Schließlich »importierte« jeder von ihnen zugleich sein Set ganz individueller Familiengeschichten, zu denen sich dann die hierzulande gemachten persönlichen Erfahrungen addierten.
Das gilt vor allem für die Vertreter der jüngeren Generation, denen auch das Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES) seit nunmehr zehn Jahren eine Plattform bietet, um Positionen, Dialoge und Projekte zu entwickeln – kurzum, um fundierte Beiträge zu einer jüdischen Zivilgesellschaft zu leisten.
JUBILÄUM »Insofern ist es spannend, jetzt wieder zu fragen, was diese jungen Menschen, diese jungen Jüdinnen und Juden, hier in Deutschland hält – und unter welchen Bedingungen sie eine Perspektive für sich sehen«, bringt es Rabbiner Walter Homolka auf den Punkt – neben ELES-Geschäftsführer Jo Frank und ELES-Referent Jonas Fegert einer der drei Herausgeber des Sammelbands Weil ich hier leben will ..., der jetzt anlässlich dieses Jubiläums erschienen ist. Man selbst verstehe sich in diesem Kontext als »Impulsgeber« für Debatten. Diese sollen aber nicht nur im innerjüdischen Rahmen stattfinden, sondern auch nach außen getragen werden.
»Ich fühle mich im doppelten Sinne mit dem Leben hier verbunden«, betont etwa Yan Wissmann in seinem Beitrag »Jecke sein oder nicht sein?«. »Mit der deutschen Gesellschaft, die eine Menge an kulturellen und sozialen Errungenschaften zu bewahren und zu verteidigen hat, sowie mit der Tradition des deutschen Judentums.« Er selbst kommt aus Brasilien und entstammt einer Familie mit deutsch-jüdischen Wurzeln.
Wer sich einen Eindruck vom neuen Selbstbewusstsein von Juden in Deutschland machen möchte, der kommt um dieses Buch nicht herum.
Für Hannah Peaceman dagegen verfügt das Judentum hierzulande nicht nur auf theoretischer Ebene über einen reichhaltigen Schatz an politischen Traditionen, der ihrer Meinung nach viel mit der Auslegung jüdischer Gesetze zu tun hat und dringend der Pflege bedarf. Dabei geht es der Politikwissenschaftlerin vor allem um die Diskussions- und Streitkultur. »Einigkeit um jeden Preis?«, fragt sie entsprechend provokativ in ihrem Plädoyer für mehr Dissens auch unter Deutschlands Juden. »Viele Widersprüche in einer zahlenmäßig kleinen Gemeinschaft können eine große Herausforderung darstellen.«
ZUKUNFT Benjamin Fischer geht in seinem Beitrag der Frage auf den Grund, »ob wir, die junge, die ›dritte Generaton‹, repräsentativ für die vielen Gesichter des Judentums stehen können«. Seine Antwort: Die jüdische Gemeinschaft muss erkennen, dass sich ihre Relevanz und »die Weitergabe des Judentums an die nächste Generation und damit die Zukunft der eigenen Gemeinde vor allem anhand von Fragen des religiösen Pluralismus entscheiden wird«.
Wer sich einen Eindruck von dem neuen Selbstbewusstsein von Juden in Deutschland machen möchte, der kommt um dieses Buch nicht herum. Vielleicht mögen nicht alle Beiträge auf Zustimmung stoßen – das wollen die Autoren ja auch gar nicht. Konsens ist nicht ihr Ding. Aber das »geistig-intellektuelle Ghetto«, in dem laut Homolka die jüdische Gemeinschaft hierzulande viel zu lange gelebt hat, dürfte diese Generation definitiv hinter sich gelassen haben.
Walter Homolka, Jonas Fegert, Jo Frank (Hg.): »›Weil ich hier leben will ...‹ – Jüdische Stimmen zur Zukunft Deutschlands und Europas«. Herder, Freiburg 2018, 224 S., 20 €