Die Aktualität des Tagungsthemas »Völkische Wissenschaften, ihre Ergebnisse und Folgen« an der Freien Universität Berlin war förmlich greifbar. Denn rechtspopulistische Bewegungen machen sich derzeit nicht nur in Deutschland zum Sprachrohr bisher vermeintlich unterdrückter Bevölkerungsgruppen.
Wie zuletzt in Chemnitz, haben sie die »Wir sind das Volk«-Parole der Wendezeit vereinnahmt und ihr eine völlig neue, und zwar ausschließende Konnotation verliehen – ganz nach dem Motto »Nur wir sind das Volk, und alle, die anders denken als wir oder womöglich nicht hierzulande geboren wurden, eben nicht.«
Völkisches Gedankengut ist wesentlich älter als der Nationalsozialismus.
Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, wenn nun auch der adjektivische Gebrauch von »Volk«, nämlich »völkisch«, wieder hoffähig gemacht werden soll. So forderte im Herbst 2016 die damalige AfD-Vorsitzende Frauke Petry, man müsse »daran arbeiten, dass dieser Begriff wieder positiv besetzt ist«. Sie sprach von einer »unzulässigen Verkürzung«, wenn gesagt werde, »völkisch sei rassistisch«.
Interpretation »Der Begriff bietet in der Tat viele Möglichkeiten einer Interpretation«, betont denn auch Michael Fahlbusch, stellvertretender Vorsitzender des Vereins »Geschichte und Zukunft«, der diese hochkarätig besetzte Tagung auf die Beine gestellt hat. »Genau deshalb ist ›völkisch‹ eben mehr als nur ein Adjektiv von ›Volk‹.« Als einer der drei Herausgeber des Standardwerks Handbuch der Völkischen Wissenschaften kennt der Historiker die Entstehungsgeschichte und die weltanschaulichen Ausprägungen des Begriffs nur allzu gut.
Dabei wird völkisches Gedankengut auch heute noch primär mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht. Dass entsprechende Denktraditionen aber deutlich älteren Datums sind und auch nach 1945 nicht einfach eine Zäsur stattgefunden hat, davon konnte man sich in Berlin ein Bild machen.
»Die Frage, wer zuerst entsprechende Gedanken ausformuliert hat, an die die späteren Völkischen anknüpften, sorgt in der Forschung selbstverständlich für Diskussionen«, erklärt der Historiker Christian Jansen aus Trier.
Er rückt dabei prominente Denker und Autoren wie Johann Gottfried Herder, Johann Gottlieb Fichte oder Ernst Moritz Arndt und die vielleicht etwas weniger bekannten Jakob Friedrich Fries und Hartwig von Hundt-Radowsky in den Vordergrund – allesamt Säulenheilige des deutschen Bildungsbürgertums. Bei ihnen zeichnet sich ein Muster ab, das später mit vielen weiteren radikalen Ideologemen aufgeladen wurde: die Dichotomie zwischen Deutschen und Fremden. »Für Fichte beispielsweise war der sogenannte Grundmensch ein Deutscher«, so Jansen.
Widerspruch Juden wurden von den frühen Völkischen, die natürlich noch nicht so hießen, als eine Gefahr für das Deutschsein, von dem sie selbst nur eine nebulöse Vorstellung hatten, etikettiert. Und so liest sich schon manche Zuschreibung von damals wie aus dem Abc der Antisemitismusforschung der Gegenwart.
Aber Juden nahmen das nicht widerspruchslos hin, wie Bernd Fischer, Professor für deutsche Literatur-, Kultur- und Ideengeschichte an der Ohio State University, zu berichten weiß. Allen voran der 1767 geborene Berliner Spätaufklärer Saul Ascher, der gegen den sich herauskristallisierenden Volksbegriff der antinapoleonischen Bewegung zu Felde zog und dessen Vertreter spöttisch als »Germanomanen« bezeichnete. »Ascher hatte ein starkes Gespür für die Stimmungen seiner Zeit«, so Fischer. »Dabei profilierte er sich nicht nur als Anhänger einer aufgeklärten Humanitätsidee, sondern beschäftigte sich gleichfalls mit dem zentralen Problem der revolutionären Gewalt.«
So attestierte Ascher Fichte & Co. Authentizitätsfantasien und attackierte ihre gefühlsschwangere Rhetorik. Dabei bemerkte er eine interessante Verschiebung bekannter Vernichtungswünsche: »So wie man zu Revolutionszeiten die Köpfe des Adels abschlug, sollten wohl jetzt die Köpfe der Juden rollen.« Sowieso sei mit den Germanomanen ein funktionierender Nationalstaat kaum machbar, gibt Fischer die Haltung des aufgeklärt-revolutionären Kosmopoliten Ascher wieder. Kein Wunder, dass seine Schriften auf dem Wartburgfest 1817 verbrannt wurden.
Netzwerke Dass völkische Stereotype nicht nur eine Angelegenheit kleiner esoterischer Zirkel waren, darüber spricht Anja Lobenstein-Reichmann, Germanistin an der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Sie beschäftigt sich mit Houston Stewart Chamberlain und dessen Rassenutopien. Sein Opus magnum Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts (1899) war nicht nur ein Bestseller, sondern auch ein wichtiges Bindeglied zwischen Richard Wagner und dem modernen Judenhass.
Viel wird darin vom deutschen Volk schwadroniert, das dem Eindringen der Juden wehrlos ausgeliefert sei. »Seine eigentliche Gefahr«, so Lobenstein-Reichmann, »ging aber nicht von der Diagnose der Gegenwart aus, sondern vielmehr von den vorgeschlagenen Therapieansätzen.« Denn diese antizipierten bereits Forderungen nach »Erlösung« und Vernichtung.
Ziel der Tagung in Berlin war es ferner, die Netzwerke der von den Nazis etablierten völkischen Wissenschaften und ihr Echo in der akademischen Landschaft der Bundesrepublik zu beleuchten. So sprach der Osteuropahistoriker Wilfried Jilge von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) über entsprechende Netzwerke und ideologische Kontinuitäten.
Sabine Bamberger-Stemmann von der Landeszentrale für politische Bildung in Hamburg fragte: »Das Volk – Phoenix oder Wiedergänger?« Und der Düsseldorfer Historiker Julien Reitzenstein, Mitorganisator der Tagung, der bei seinen Forschungen zum SS-»Ahnenerbe« auf Hugo Heymann, den jüdischen Vorbesitzer der Bundespräsidenten-Villa in Berlin-Dahlem gestoßen war, sprach über »Die Grenzen des Rechts – rechtliche Bewertung von Entrechtlichung. Die Dienstvilla des Bundespräsidenten und ein gescheiterter Restitutionsprozess«.
Ohne Frage – wer die Sprache und Denkfiguren der neurechten Bewegungen der Gegenwart wirklich dechiffrieren und verstehen will, der kommt um eine Beschäftigung mit dem Begriff »völkisch« nicht herum.