Kino-Tipp

Mehr als eine Bibliothek

Plakat des neuen Dokumentarfilms »Ex Libris« Foto: Kool Film

Die kreative Energie von Frederick Wiseman muss immens sein; fast im Jahresrhythmus schickt er neue Arbeiten in die Welt, die meisten von ihnen über drei Stunden lang. Dabei ist der große Dokumentarfilmer, der als Mitbegründer des Direct Cinema um 1960 gilt und später vor allem mit seinen unaufgeregten, breit angelegten Institutionenporträts selbst zu einer Art Institution wurde, fast 90 Jahre alt.

2016 erhielt Wiseman den Ehrenoscar, 2014 in Venedig den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk. Dort war er in den vergangenen beiden Jahren schon wieder mit neuen Arbeiten vertreten, sein Dokumentarfilm Ex Libris wurde dort bereits 2017 gezeigt. Dabei hat der Regisseur, der 1930 in Boston in einer jüdischen Familie aufwuchs, nach Ausflügen in die Pariser Oper und das dortige Cabaret seit dem Film Jackson Heights von 2015 wieder vor allem sein Heimatland im Blick.

Zweigstellen Im speziellen Fokus ist hier erneut die Stadt New York. Und zwar eine wichtige öffentliche Einrichtung der Stadt, die neben der auch architektonisch repräsentativen Zentrale an der Fifth Avenue etwa so viele Zweigstellen hat wie der Filmemacher Wiseman Jahre, und die neben dem Verleih von Büchern ein beeindruckend vielfältiges Portfolio an Aktivitäten von Konzert und Vortrag bis zur Berufsberatung bereitstellt.

Die Bibliothek ist seit der Gründung 1911 in privat-öffentlicher Partnerschaft unterwegs und muss alljährlich neue Sponsoren-Gelder einwerben, was man – typisch USA – aber nicht als Last empfindet, sondern als kreative Herausforderung annimmt.

Diesbezügliche Gremiensitzungen werden im Film ausführlich mit der Kamera begleitet, ebenso wie die Leseförderung mit Kindern in der Bronx, eine Einführung in die riesige Sammlung an rechtefreien Illustrationen oder die kostenlose Ausgabe von Leih-Wifi-Hotspots. Es gibt Mitschnitte von Vorträgen im Schomburg Center für die Erforschung der afroamerikanischen Kultur, Lesungen, (Gratis-)Konzerte und Gespräche mit Migranten (Wisemans Eltern waren selbst aus Osteuropa in die USA eingewandert).

Zeit Wie gewohnt lässt Wiseman sich und vor allem uns Zuschauern viel Zeit und montiert lange zusammenhängende Stücke, in denen wir selbst die Aufmerksamkeit lenken und eigenständige Beobachtungen etwa zur Interaktion der gezeigten Personen machen können. Dabei verzichtet der Film auf die journalismusüblichen Bauchbinden, die uns Personen oder Funktionen erklären, sodass wir selbst raten müssen, wer welche Funktion erfüllt. Auch Patti Smith, die in einem Interview auftritt, wird erst im Abspann genannt.

Dokumentarisches »L’art pour l’art« ist Wisemans jüngster Film trotz seines Purismus aber keineswegs. Denn – wie auch im Film mehrfach ausdrücklich formuliert – die New York Public Library ist neben aller Bibliophilie vor allem eine Bildungseinrichtung. Und als solche steht sie programmatisch und praktisch für eine breite Öffnung zur Gesellschaft und die Teilhabe möglichst vieler am öffentlichen Leben.

Diesen emphatischen Begriff von Demokratie und Gemeinschaft macht sich Wiseman unübersehbar zu eigen. Gedreht wurde der Film zwar noch vor Trump-Zeiten (wenn von Bildungs-Projekten der First Lady die Rede ist, ist damit nicht Melania gemeint). Besondere Relevanz bekommt das hier gezeigte und propagierte gemeinwohlorientierte Denken und Handeln aber als Gegenentwurf zum praktizierten Egoismus der derzeit in den USA regierenden Schicht.

»Ex Libris. New York Public Library« läuft ab dem 25. Oktober im Kino.

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 20. Februar bis zum 27. Februar

 21.02.2025

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Der Berliner CDU-Fraktionschef Dirk Stettner hat seine Karte für die Abschlussgala zerrissen – und will die Förderung für das Filmfestival streichen

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NS-Raubkunst: Zentralrat fordert schnelle Aufklärung

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 20.02.2025

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Unentschlossen vor der Wahl? Sie sind in guter Gesellschaft – mit Maimonides

Der jüdische Weise befasste sich mit der Frage: Sollten wir als Kopfmenschen mit all unserem Wissen auch bei Lebensentscheidendem dem Instinkt vertrauen?

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Noah Levi trat beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest an. In die nächste Runde kam er nicht, seinen Weg geht er trotzdem

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Jüdische Erben: »Bayern hat uns betrogen« - Claims Conference spricht von »Vertrauensbruch«

Laut »Süddeutscher Zeitung« ist der Freistaat im Besitz von 200 eindeutig als NS-Raubkunst identifizierten Kunstwerken, hat dies der Öffentlichkeit aber jahrelang verheimlicht

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Literatur

»Die Mazze-Packung kreiste wie ein Joint«

Jakob Heins neuer Roman handelt von einer berauschenden Idee in der DDR. Ein Gespräch über Cannabis, schreibende Ärzte und jüdischen Schinken

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Berlinale

Auseinandergerissen

Sternstunde des Kinos: Eine Doku widmet sich David Cunio, der am 7. Oktober 2023 nach Gaza entführt wurde, und seinem Zwillingsbruder Eitan, der in Israel auf ihn wartet

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Berlin

»Sind enttäuscht« - Berlinale äußert sich zu Antisemitismus-Skandal

»Beiträge, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, überschreiten in Deutschland und auf der Berlinale eine rote Linie«, heißt es in einer Erklärung des Festivals

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