Comic

Maus in Ground Zero

Trauma: Szene aus »Im Schatten keiner Türme« Foto: verlag

»Ich war sicher, dass wir alle sterben müssen«, erinnert sich Art Spiegelman an den 11. September 2001. Als Paranoiker werde er unaufhörlich von mehr oder weniger todbringenden Ängsten heimgesucht, so der Comicautor. Doch die grauenhaften Ereignisse am Ground Zero hätten alles überschattet, was er in seinen Angstzuständen für möglich hielt.

Hautnah erlebte Spiegelman die Anschläge in seiner Heimatstadt New York mit, wurde von Panik und Entsetzen, von Angst um Familie und Freunde übermannt, als die Alltagswelt von Lower Manhattan vor seinen Augen in Schutt und Trümmern, Rauch und Leichen versank. Das rotglühende Gebäudeskelett kurz vor dem Einsturz brannte sich ihm als Emblem der Ereignisse ins innere Auge. »Vor 9/11 waren meine Traumata mehr oder weniger selbstverschuldet, aber vor der Giftwolke wegzurennen, die Sekunden zuvor noch der Nordturm des World Trade Center gewesen war, ließ mich taumelnd auf der Verwerfung zurück, wo Weltgeschichte und eigene Geschichte aufeinanderprallen.«

fluchtreflex Zehn Jahre hatte Spiegelman damals keinen Comic mehr veröffentlicht. Aber diese existenzielle Erfahrung musste er festhalten – und was lag da näher, als dafür sein Medium zu nutzen. Im Schatten keiner Türme heißt die Graphic Novel, die pünktlich zum Jahrestag des Anschlags gerade auf Deutsch im Arche Verlag erschienen ist. Spiegelman knüpft in gewissem Sinn an sein Opus Magnus Maus an, das 1992 als erste Graphic Novel überhaupt einen Pulitzer-Preis erhielt.

In dem zweibändigen gezeichneten Roman mit dem Untertitel Die Geschichte eines Überlebenden hatte er die Schoa als Katz-und-Maus-Allegorie dargestellt und versucht, so die Traumata seiner Eltern zu verarbeiten, die beide Auschwitz überlebt hatten. Als am 11. September 2001 die Türme des World Trade Centers keine Schatten mehr warfen, fühlte der Autor jenen Moment angebrochen, von dem seine Eltern berichtet hatten: Sie hatten dem Sohn von klein auf beigebracht, immer auf gepackten Koffern zu sitzen.

Statt aber wegzulaufen, hatte Spiegelman die Idee, die Anschläge und deren darauf folgende Instrumentalisierung durch die Bush-Regierung zeichnerisch zu reflektieren. Die deutsche Wochenzeitung Die Zeit veröffentlichte 2003 Im Schatten keiner Türme als zehnteilige Serie. Andere Blätter folgten – vorwiegend in Europa, US-Printmedien blieben zurückhaltend.

reminiszenzen Im Großformat einer Zeitungsseite findet Spiegelmans Auseinandersetzung zur eigenen Darstellungsform. Seine riesigen Tableaus gleichen Pinnwänden, an die collagenartig assoziative Bilder geschlagen sind. Mosaikartig und mäandernd fließen hier subjektive Erlebnisse und tatsächliche Ereignisse rund um 9/11 zusammen. Statt einer – wohl unmöglichen – Gesamtdarstellung bleibt Spiegelman bewusst unübersichtlich und begibt sich mitten hinein in seine Gefühlswelt, macht den eigenen persönlichen Erfahrungsraum bildlich.

Weil er damals Trost in alten Zeitungscomics fand, wird Im Schatten keiner Türme auch zum Ausflug in die Cartoon-Geschichte: Der allererste Zeitungsstrip, Hogan’s Alley, erblickte vor hundert Jahren in der Nähe der späteren Zwillingstürme das Licht der Welt. Nun erwachen die Helden Yellow Kid & Co. als Geister zu neuem Leben.

paranoia »Nichts wird mehr so sein, wie es einmal war«: Über die Bildtafeln hinweg spielt Spiegelman vielfach mit diesem Ausspruch. 9/11 erscheint als Zäsur und Kontinuität zugleich. Denn für den Autor ändert der Massenmord nichts an seiner Sicht einer ungerechten Weltpolitik.

Spiegelman vermisst die Empörung auf die Reaktionen der Bush-Administration, die Kriegspropaganda, den Generalverdacht, die Verschwörungstheorien. Da kann selbst einem normalen Großstadtneurotiker wie Spiegelman die Panik hochschießen. So zieht sich die Frage »Wer ist denn hier paranoider?« als roter Faden durch die Bilder, ist die Orientierungsschnur, um den Ereignissen mit Bedacht beizukommen. Immer wieder tauchen die rotglühenden Turm-Gerippe auf, als eine Art Denkmal und Mahnung in diesem gezeichneten Tagebuch eines verwurzelten Kosmopoliten, in dem Art Spiegelman die Angst um sein Quartier wie um die Menschheit bewegend zum Ausdruck bringt.

Art Spiegelman: »Im Schatten keiner Türme«. Atrium, Zürich/Hamburg 2011, 42 S., 34,90 €

Bochum

Gil Ofarim kündigt Konzert an

Gerade erst zeigte er sich geläutert - nun kündigt er neue Pläne an

 22.11.2024

Den Haag

Der Bankrott des Internationalen Strafgerichtshofs

Dem ICC und Chefankläger Karim Khan sind im politischen und juristischen Kampf gegen Israel jedes Mittel recht - selbst wenn es unrecht ist. Ein Kommentar

von Daniel Neumann  22.11.2024

Saarbrücken

Moderne Galerie zeigt Illustrationen von Marc Chagall

Die Schau »Marc Chagall. Die heilige Schrift« ist bis zum 25. April 2025 zu sehen

 21.11.2024

Fußball

Neuer wackelt: Plötzliche Chance für Peretz im Bayern-Tor?

Manuel Neuer plagt »ein Stechen im Rippenbereich« und Sven Ulrteich fällt vorerst aus persönlichen Gründen aus

 21.11.2024

Gut besucht: die Konferenz in Berlin

Zionismus-Tagung

Vom Recht auf einen souveränen Staat

In Berlin diskutieren Referenten und Teilnehmer aus Deutschland und Israel verschiedene Aspekte

von Detlef David Kauschke  21.11.2024

Veranstaltungen

Sehen. Hören. Hingehen.

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 21. November bis zum 28. November

 21.11.2024

Liedermacher

Wolf Biermann: Ein gutes Lied ist zeitlos gut

Er irre sich zuweilen, gehöre habe nicht zu den »irrsten Irrern«, sagt der Liedermacher

 21.11.2024

Nachruf

Meister des Figurativen

Mit Frank Auerbach hat die Welt einen der bedeutendsten Künstler der Nachkriegsmoderne verloren

von Sebastian C. Strenger  21.11.2024

Berlin

Ausstellung zu Nan Goldin: Gaza-Haltung sorgt für Streit

Eine Ausstellung würdigt das Lebenswerk der Künstlerin. Vor der Eröffnung entbrennt eine Debatte

von Sabrina Szameitat  21.11.2024