Als Thamy Pogrebinschi neun Jahre alt war, schrieb sie einen Brief an Brasiliens damaligen Präsidenten José Samey. Darin beklagte sie sich empört über die vielen armen Menschen in ihrem Land und die soziale Ungerechtigkeit. Das Schreiben drückte das Kind voller Inbrunst seinem Vater in die Hand, der es unverzüglich an den Staatschef senden sollte.
»Mein Vater hat den Brief nie abgeschickt, aber er hat ihn aufgehoben«, erzählt die heute 36-Jährige. Als aus dem zornigen Kind eine ebenso engagierte Jura- und Politikstudentin an der State University of Rio de Janeiro geworden war, gab er ihr den Brief zurück – zum Lesen. »Er war ein bisschen peinlich«, sagt Thamy Pogrebinschi und lacht. Sie hatte darin Wahlen vorgeschlagen, und dass die Reichen den Armen abgeben sollten. »Kinderlösungen«, sagt sie, doch eigentlich waren die gar nicht so kindlich, und der Brief unterscheidet sich auch nicht so sehr von dem, was Thamy Pogrebinschi heute macht.
Dem Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit, der Suche nach Auswegen und politischer Mitbestimmung auch für Minderheiten ist sie treu geblieben. Die brasilianische Politologin und Juristin lehrt und forscht heute über demokratische Mechanismen und Neuerungen, über innovative Wege der politischen Entscheidungsfindung und kreative Bürgerbeteiligung. Sie ist eine Expertin für die Demokratien Lateinamerikas, die vielfach durch Referenden, Volksabstimmungen, Bürgerhaushalte oder kommunale Entwicklungsräte neue Formen der Partizipation erproben.
Innovationen Wenn Thamy Pogrebinschi ihre Vorlesungen und Seminare hält, unterscheidet sie sich – mit Jeans und langem Haar – äußerlich kaum von ihrem Studenten. In ihrer Vita allerdings drängen sich bereits die Einträge. Sie ist derzeit Professorin an der staatlichen Universität von Rio de Janeiro sowie Gastwissenschaftlerin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Ihren Doktor in Politikwissenschaften hat sie in Brasilien und New York gemacht.
Mittlerweile hat sie sechs Bücher über politische und demokratische Theorie und über Karl Marx geschrieben. Im vergangenen Wintersemester war sie außerdem die bisher jüngste Inhaberin der Alfred-Grosser-Gastprofessur an der Frankfurter Goethe-Universität. In Deutschland beschäftigt sie sich mit der Frage, welche Chancen sich aus den politischen Innovationen in Südamerika für Europas Demokratien eröffnen können.
Mit einem Alexander-von-Humboldt-Stipendium kam Pogrebinschi nach Deutschland, lernte in Rekordzeit die Sprache, seit 2011 arbeitet sie am WZB – nach dem Ende ihres Stipendiums mittlerweile als festangestellte wissenschaftliche Mitarbeiterin. »Ich hätte auch in die USA gehen können, dahin hatte ich auch eine Einladung«, sagt sie leichthin, »doch da bin ich schon gewesen, und Deutschland, seine Sprache und Kultur haben mich immer schon interessiert.« Sie habe, fügt die Politologin an, die politischen und wirtschaftlichen Theorien von Karl Marx immer schon im Original lesen wollen.
Ihre Leidenschaft für Gerechtigkeit und Menschenrechte wird von der sozialen und politischen Situation vieler latein- und südamerikanischer Länder befeuert. Mit dem Anblick der Armen in den brasilianischen Favelas, den Elendsvierteln, ist die 36-Jährige aufgewachsen. Sie selbst stammt zwar aus besser situierten Familienverhältnissen – ihr Vater ist Architekt, ihre Geschwister haben Ökonomie, Informatik und Architektur studiert –, doch in der Zufriedenheit der eigenen Welt wollte sich die junge Frau nie einrichten.
Favelas Schon als Studentin gründet sie mit Freunden eine private Nachhilfeschule, um arme Schüler zu unterrichten, ihnen zum Abitur, einer besseren Bildung und Zukunft zu verhelfen. Jeden Samstag, vier Jahre lang, gab sie dort Kurse in Politik und Jura, sprach über Staatskunde, Bürger- und Menschenrechte, politische Institutionen und Mitbestimmung. »Es waren meist Bewohner der Favelas. Ich wollte, dass auch sie ihre Rechte kennen«, erinnert sich Pogrebinschi.
Später schloss sie sich zwei Nichtregierungsorganisationen an, forschte aber auch für das brasilianische Justizministerium. »Dort habe ich viel von der Regierungsarbeit mitbekommen, ich habe aber auch gemerkt, dass mir die Lehre an der Universität mehr Spaß macht. Ich möchte mein Wissen weitergeben«, erklärt sie.
Thamy Pogrebinschis Familie stammt aus Moldawien und der Ukraine, ihre Großeltern waren von dort schon in den 20er-Jahren nach Südamerika ausgewandert. Pogrebinschi besuchte in Rio eine jüdische Schule. »Die jüdische Kultur ist meine Identität«, sagt sie. Für ihren Vater ist der Deutschland-Aufenthalt der Tochter nicht ganz unproblematisch. »Er hat ein bisschen Angst um mich«, erzählt die Wissenschaftlerin. Wenngleich sie vorsichtig sei, in Deutschland ihr Judentum offen zu zeigen, fühlt sie sich sehr wohl in Berlin. »Ich bin glücklich hier, und wer weiß, vielleicht bekomme ich irgendwann auch eine feste Professorenstelle in Deutschland.«