Die Kellnerin im Warschauer Café fragt, ob ich Tourist bin. »Eigentlich«, sage ich ihr und zeige auf eine nahe gelegene Kreuzung, »ist mein Zuhause genau hier.« Es ist überraschend, wie wenig Zeit ich dafür gebraucht habe, den 1,20 Meter breiten Raum in einem fremden Land, dessen Sprache ich nicht spreche, »Zuhause« zu nennen. Aber der lange, enge Raum, in dem ich die Nacht verbracht habe, fühlt sich tatsächlich wie ein Zuhause an.
Vor nur drei Jahren klang die Idee eher wie ein alberner Scherz. Ich bekam auf meinem Mobiltelefon einen Anruf von einer unterdrückten Nummer. Am anderen Ende der Leitung stellte sich ein Mann, der Englisch mit dickem Akzent sprach, als Jakub Szczesny vor, ein polnischer Architekt.
»Eines Tages«, sagte er, »ging ich die Chlodna-Straße hinunter und sah eine schmale Lücke zwischen zwei Häusern. Und diese Lücke sagte mir, dass ich dort ein Haus bauen muss.«
»Toll«, sagte ich und versuchte, ernsthaft zu klingen. »Man soll immer tun, was eine Lücke einem sagt.«
treffen Zwei Wochen nach diesem eigenartigen Gespräch, das ich in meinem Gedächtnis unter »unklare Practical Jokes« abgelegt hatte, rief Szczesny wieder an. Diesmal, wie sich herausstellte, aus Tel Aviv. Er war hergekommen, damit wir uns von Angesicht zu Angesicht treffen konnten, da er richtigerweise annahm, dass ich ihn bei unserem letzten Gespräch nicht ernstgenommen hatte.
Als wir uns in einem Café in der Ben-Yehuda-Straße trafen, teilte er mir mehr Einzelheiten über seine Idee mit, mir ein Haus zu bauen, das die Proportionen meiner Geschichten haben sollte: so minimalistisch und klein wie möglich. Als Szczesny den unbenutzten Platz zwischen den beiden Häusern auf der Chlodna-Straße sah, entschied er, dass er mir da ein Zuhause bauen musste. Als wir uns trafen, zeigte er mir die Baupläne für ein schmales dreistöckiges Haus.
Nach unserem Treffen nahm ich das computersimulierte Bild des Gebäudes in Warschau mit in mein Elternhaus. Meine Mutter wurde 1934 in Warschau geboren. Als der Krieg ausbrach, kam sie mit ihrer Familie ins Ghetto. Noch als Kind musste sie Wege finden, um ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder zu helfen. Kinder konnten leichter aus dem Ghetto entkommen und Nahrungsmittel hineinschmuggeln. Während des Krieges verlor sie ihre Mutter und ihren kleinen Bruder. Dann verlor sie auch ihren Vater und war völlig allein auf der Welt.
Vor vielen Jahren hat sie mir erzählt, dass sie nach dem Tod ihrer Mutter ihrem Vater gesagt hatte, dass sie nicht mehr kämpfen wolle, dass es ihr egal war, ob sie auch sterben würde. Ihr Vater sagte ihr, dass sie nicht sterben dürfe, dass sie überleben müsse. »Die Nazis«, sagte er, »wollen unseren Familiennamen aus dem Land auslöschen, und du bist die Einzige, die ihn am Leben halten kann. Es ist deine Mission, durch den Krieg zu kommen und sicherzustellen, dass unser Name überlebt, sodass ihn jeder, der über die Straßen von Warschau geht, kennt.«
Waisenhaus Kurz darauf starb er im polnischen Aufstand. Als der Krieg zu Ende war, wurde meine Mutter zuerst in ein polnisches Waisenhaus geschickt, dann in ein französisches, und kam von dort nach Israel. Indem sie überlebte, erfüllte sie den Auftrag ihres Vaters. Sie hielt die Familie und deren Namen am Leben.
Als meine Bücher allmählich in Übersetzungen erschienen, waren die zwei Länder, in denen ich erstaunlicherweise einen gewissen Erfolg hatte, Deutschland und Polen. Später, in perfekter Übereinstimmung mit der Biografie meiner Mutter, kam Frankreich dazu. Meine Mutter ging niemals nach Polen zurück, aber mein Erfolg in ihrem Geburtsland war ihr sehr wichtig, sogar wichtiger als mein Erfolg in Israel. Ich erinnere mich, dass sie, nachdem sie meine erste Sammlung in polnischer Übersetzung gelesen hatte, zu mir sagte: »Du bist überhaupt kein israelischer Schriftsteller. Du bist ein polnischer Schriftsteller im Exil.«
Meine Mutter musste nicht einmal eine Sekunde auf das Bild sehen; zu meiner Überraschung erkannte sie die Straße augenblicklich. Das schmale Zuhause würde, gänzlich durch Zufall, genau an die Stelle gebaut werden, wo eine Brücke das kleinere Ghetto mit dem größeren verbunden hatte. Wenn meine Mutter Nahrung für ihre Eltern schmuggelte, musste sie dort an einer von Nazisoldaten bemannten Barrikade vorbei. Sie wusste genau: Wurde sie dabei erwischt, dass sie einen Laib Brot mit sich trug, würde man sie sofort erschießen.
Und jetzt bin ich hier, am gleichen Schnittpunkt, und das schmale Haus ist keine Simulation mehr. Neben der Türklingel ist ein Schild, auf dem in großen, frechen Buchstaben DOM KERETA (THE KERETHOUSE) steht. Und ich fühle, dass meine Mutter und ich jetzt den Wunsch meines Großvaters erfüllt haben und dass unser Name wieder lebt, in dieser Stadt, in der fast keine Spur meiner Familie mehr existiert.
Nachbarin Als ich aus dem Café zurückkomme, wartet am Eingang eine Nachbarin auf mich – eine Frau, die sogar noch älter ist als meine Mutter und ein Einmachglas in Händen hält. Sie lebt auf der anderen Straßenseite, hat von dem schmalen Haus gehört und will den neuen israelischen Nachbarn mit hausgemachter Marmelade begrüßen. Ich bedanke mich und erkläre ihr, dass mein Aufenthalt in dem Haus begrenzt und symbolisch sein wird. Sie nickt, aber sie hört mir nicht wirklich zu.
Der Mann, den ich auf der Straße gebeten habe, ihr Polnisch in mein Englisch zu übersetzen, hört damit auf, meine Worte wiederzugeben, und sagt in entschuldigendem Ton, dass er glaubt, dass sie nicht gut hört. Ich bedanke mich wieder bei der Frau und wende mich ab, um ins Haus zu gehen. Sie ergreift meine Hand und beginnt einen langen Monolog. Der Mann kommt beim Übersetzen kaum mit.
»Sie sagt, dass sie als Mädchen zwei Klassenkameraden hatte, die nicht weit von hier lebten. Beide Mädchen waren jüdisch, und als die Deutschen in die Stadt einmarschiert sind, mussten sie ins Ghetto ziehen. Vor der Abreise hatte ihre Mutter zwei Marmeladenbrote gemacht, die sie ihren Freundinnen geben sollte. Sie haben die Brote genommen und ihr gedankt, und sie hat sie nie mehr gesehen.«
Die alte Frau nickt, als wolle sie alles bestätigen, was er auf Englisch sagt, und als er fertig ist, fügt sie noch ein paar Sätze hinzu, die er übersetzt. »Sie sagt, dass die Marmelade, die sie Ihnen gibt, genau die gleiche ist, die ihre Mutter auf die Brote der Mädchen geschmiert hat. Aber die Zeiten ändern sich, und sie hofft, dass man Sie nie zwingen wird, von hier wegzuziehen.« Die alte Frau nickt und nickt, und ihre Augen füllen sich mit Tränen. Als ich sie umarme, erschrickt sie zunächst, aber dann freut sie sich.
mutter In dieser Nacht sitze ich in der Küche meines schmalen Hauses, trinke Tee und esse eine Scheibe Brot mit einer Marmelade, die süß ist vor Großzügigkeit und sauer von den Erinnerungen. Ich esse immer noch, als mein Mobiltelefon auf dem Tisch vibriert. Ich sehe auf den Schirm – es ist meine Mutter. »Wo bist du?«, fragt sie in dem gleichen besorgten Ton, den sie hatte, wenn ich als Kind spät aus dem Haus eines Freundes zurückkam.
»Ich bin hier, Mama«, sage ich mit erstickter Stimme. »Zu Hause in Warschau.«
Der Text ist ein Auszug aus Etgar Kerets neuem Erzählband, der heute erscheint. Etgar Keret: »Die sieben guten Jahre. Mein Leben als Vater und Sohn«. S. Fischer, Frankfurt 2016, 224 S., 19,99 €