Es ist schon wieder April und damit schon wieder Pessach – es geht los mit dem Sederabend. Dieses Jahr unterscheidet er sich von allen anderen Sederabenden: Der neue Freund meiner Schwester ist dabei. Die Einladung war nicht ihre Idee. Lea hat mit jüdischen Festen eh nichts am Hut. Vor allen anderen Dingen ist sie Vegetarierin (kein Fleisch zu essen ist ihr Religion genug): Im Sederabend sieht sie weniger die Befreiung der Juden als das Opfer des Lammes. Es sei ein »Familienfest«, sagte Mama und lud Christian selber ein.
abfragen Wie bei jeder Feier nutzt meine Mutter die Gelegenheit, die Religionskenntnisse ihrer Töchter zu prüfen. Und weil sie bei jeder Feier, von Rosch Haschana bis Weihnachten, das gleiche Quiz veranstaltet, und weil sie weiß, dass wir das hassen, nimmt sie diesmal Leas Freund als Vorwand.
»Erklär Christian, warum wir Seder feiern.« »Hab’ schon«, sagt Lea. Meine Mutter sieht Christian an: »Stimmt das?«
Christian macht eine vage Handbewegung. »Und was hast du ihm erklärt?« »Na alles.« »Und was genau?« »Wie es halt beim Seder zugeht.«
Lea weiß alles über artgerechte Tierhaltung und die Gefühle von Katzen, Lämmern und Eichhörnchen, aber den Unterschied zwischen Jom Kippur und Chanukka kann sie sich kaum merken – ein Manko, das sich wiederum meine Mutter nicht merken kann. Um den Tisch wird es plötzlich ganz still, und alle starren Lea an. Ich möchte nicht an ihrer Stelle sein.
panik »Es geht damit los, dass man durchs Knallen von Schubladen und Schranktüren geweckt wird. Das Haus wird von oben bis unten nach einer Tischdecke durchsucht, die groß genug für zwei Tische ist, ohne Flecken, ohne Brandlöcher und ohne hässliche Muster.
Den ganzen Tag wird gewühlt, geputzt, gescheuert, geschwitzt, gekocht und geschrien. Wenn es dann an der Tür klingelt, bricht Panik aus: Alles rennt nach oben, um sich anzuziehen, und Papa muss die Gäste allein unterhalten. Mich schickt man immer als Erste nach unten, damit ich mit den Kindern spiele, bevor sie etwas anstellen. Während sich Mama schminkt, schreit sie durchs ganze Haus: den Ofen anmachen, den Herd ausmachen, dies aufsetzen, jenes abgießen. Dann rennt sie halb angezogen selber in die Küche, weil es verbrannt riecht, und regt sich darüber auf, dass Papa noch im T-Shirt und der Wein noch im Keller ist.
hunger Dann geht es zu Tisch, aber zu essen gibt es noch lange nichts. Wenn sich alle endlich gesetzt haben, stehen die Männer wieder auf, um Kippas zu holen. Die Hälfte hat sie vergessen. Papa sucht da, wo sie sein sollten, aber nicht sind. Schließlich läuft Awi Goldfeld nach Hause, um welche zu holen. Irgendwann sitzt man wieder, gegessen wird noch immer nicht. Awi kommt mit einem Stapel Kippas zurück, die er auf Hochzeiten gesammelt hat.
Die Kippas werden aufgesetzt, wieder abgenommen und umgedreht. »Minka und Jossi Finkel – längst geschieden.« Man inspiziert die Inschriften und teilt die Paare in zwei Kategorien ein: Wer ist schon geschieden, wer wird es bald sein? Es wird geredet, gelesen und geklärt, was gelesen und was nicht gelesen werden soll, dazwischen kriegt man ein Blättchen Petersilie, ein Radieschen oder ein paar Mazzebrösel und stirbt vor Hunger. Wieder vergeht eine Ewigkeit, bis ein Ei geteilt wird, und man redet noch immer. Auch übers Essen. Und darüber, was man lesen, vor allem aber, was man überspringen soll. Mama sitzt am Tisch und redet mit, obwohl sie in der Küche genug zu klären hätte.«
»Und das ist also deine Haggada?«, sagte Mama, stand auf und ging in die Küche, um endlich den ersten Gang zu holen: ein gekochtes Tier.
Aus »Nicht ganz koscher. Storys für die Feiertage«. Hrsg. von Patricia Reimann. DTV, München 2011, 303 S., 9,90 €