Herr Engländer, wie oft hat Ihre Mutter heute schon angerufen?
Noch gar nicht. Sie behauptet immer, ein jüdischer Junge habe bei seiner Mutter anzurufen und nicht die Mutter beim Sohn.
Ihr Wort in Mutters Ohr. Meine persisch-jüdische Mutter hat mir heute schon drei Mails geschrieben und zwei Nachrichten auf der Mailbox hinterlassen.
Vielleicht gibt es in dieser Hinsicht einen Unterschied zwischen sefardischen und aschkenasischen Müttern. Wir stammen aus Polen – reinrassische, polnische Juden, wenn man so will. Und so benimmt sich auch meine Mutter.
Sie schreiben seit einiger Zeit über Ihre Mutter eine Kolumne in der Tageszeitung »Die Welt«. Warum gerade dieses Thema?
Als Journalist sollte man über das schreiben, wovon man am meisten versteht. Ich habe zwar Wirtschaft studiert, aber mit meiner jiddischen Mamme kenne ich mich wesentlich besser aus als mit Bilanzen und Steuern.
Für eine deutsche Zeitung ein eher ungewöhnliches Thema.
Wieso? Wir sind Teil dieser Gesellschaft. Zwar ein kleiner, aber wir gehören dazu. Die Kolumne heißt »Schmonzes«, das ist das Gegenteil von »Tacheles«. Von Letzterem haben wir genug in der Zeitung. Mein Chefredakteur ist der Meinung, dass ein seriöses Blatt auch unterhaltsame Elemente braucht. Und sie können sich gar nicht vorstellen, wie viele Gojim sich auf einmal mit meiner jüdischen Mutter identifizieren.
Sind Sie ein Muttersöhnchen?
Früher war ich das tatsächlich. Jetzt gibt es Leute, die behaupten, ich sei es immer noch. Dabei ist es genau umgekehrt: Ich bin mit 19 Jahren von zu Hause ausgezogen, früher als meine beiden älteren Brüder. Meine Kolumne ist eher eine Art Familienzusammenführungsprogramm. Seit es die Kolumne gibt, ruft meine Mutter regelmäßig am Sonntag bei mir an. Einmal, um zu fragen, ob am Montag die Kolumne erscheint. Ich sage dann immer: »Nein, erst nächste Woche«. In der darauffolgenden Woche versucht sie, per Kontrollanruf vorab herauszufinden, was ich über sie geschrieben habe. Erfolglos!
Wie findet es Ihre Mutter, dass Sie in der Zeitung regelmäßig über sie schreiben?
Da ist sie ganz stereotyp die jiddische Mamme: Sie ist im Prinzip nie zufrieden und behauptet jedes Mal, ich würde sie »verreißen« wie ein schlechtes Theaterstück. Bei uns zu Hause geht es auch zu wie im jiddischen Theater – »A Tragedije mit Tanz unt Gesang«. Um fünf Ecken erfahre ich dann allerdings, dass sie sich auch darüber freut.
Und wie reagiert der Rest der Familie?
Mein Bruder drohte mir nach der ersten Kolumne mit dem Anwalt, und meine Cousine versucht regelmäßig, mich dazu zu bewegen, endlich zu schreiben, dass sie noch immer auf der Suche nach dem perfekten Mann sei. Für viel interessanter halte ich aber die Reaktionen der Leser.
Inwiefern?
Einer zum Beispiel schrieb mir: »Warum müssen Sie immer auf das Jüdische und die Auserwähltheit des jüdischen Volkes abheben?« Ich solle nicht den Eindruck bekommen, er sei ein Antisemit oder Deutschnationaler, aber wir seien doch alle gleich. Das müsse ich doch endlich anerkennen.
Was haben Sie geantwortet?
Dass wir vor Gericht und im täglichen Umgang miteinander hoffentlich alle gleich behandelt werden. Ansonsten aber – Gott sei Dank! – sind die Menschen unterschiedlich. Ein Leben ohne kulturell-religiöse Vielfalt wäre doch stinklangweilig.
Wann ist Ihnen aufgefallen, dass Ihre Mutter anders ist als etwa die Mütter Ihrer nichtjüdischen Freunde?
Eigentlich von Anfang an. Man kann es einer jüdischen Mutter einfach nie recht machen. Meine Mutter wünschte sich immer ein Mädchen. Als ich zur Welt kam, lagen schon die rosafarbenen Handtücher bereit. Sorry, es wurde ein Junge. Wäre ich Präsident, wäre sie nicht stolz, sondern würde sich wahrscheinlich darüber beschweren, dass ich zu wenig Zeit für sie habe.
Wie gehen Sie damit um?
Man muss dieses Schicksal annehmen. Ich warne aus eigener Erfahrung jeden davor, dagegen anzukämpfen. Genau das ist, glaube ich, das Drama vieler jüdischer Kinder. Sie versuchen, es ihrer Mutter recht zu machen, obwohl das ums Verrecken nicht geht.
Haben Sie sich als Kind mal gewünscht, eine »normale«, eine deutsche Mutter zu haben?
Niemals! Es gibt Mütter, die können besser backen als meine Mutter, sind hipper und vor allem unkomplizierter – aber ich wollte niemals tauschen! Das gilt übrigens für meine ganze Familie. Es gibt wahrscheinlich nichts, was es in unserer Familie nicht gibt. An Rosch Haschana zu Hause fühle ich mich selbst gelegentlich wie im falschen Film. Aber ich würde nie tauschen. Alles in allem ist meine Kolumne ja eine Verbeugung, eine Hommage an meine Mutter, die Familie im Allgemeinen und den alltäglichen Wahnsinn im Leben von uns allen. Wenn die Leser am Ende sagen: »Oh Gott, das kenne ich auch«, dann bin ich schon glücklich.
Worin gleichen sich jüdische Mütter?
Also eines habe ich in der vergangenen Woche gelernt: Sage nie etwas Falsches über das Essen. Denn da reagieren sie alle gleich. Auf Facebook entbrannte nach meiner letzten Kolumne ein wahrer Sturm des Entsetzens. Ich hatte den Eindruck, die internationalen WIZO-Frauen aller Länder hatten sich gegen mich verschworen, nur weil ich behauptet habe, »Kischke mit Tscholent«, »Gefilte Fisch« und »Pipik’loch« seien, genauer betrachtet, genauso ekelig wie die gegrillten Kakerlaken im Dschungelcamp. Da fühlt sich die jiddische Mamme offensichtlich tief in ihrer Ehre verletzt.
Woran genau liegt das?
Vielleicht ist es das Post-Holocaust-Syndrom. Wahrscheinlicher ist aber: Jüdische Mütter waren schon immer schrill, »chuzpedig« und voll überbordender Liebe für ihre Kinder. Im Grunde wollen sie für uns einfach nur das Beste. Auch wenn wir Kinder uns darunter etwas ganz anderes vorstellen. Bei einem Bewerbungsgespräch vor vielen Jahren sagte mir ein erfolgreicher Medienmanager: »Ihre Mutter muss Sie mit sehr viel Liebe erzogen haben, sonst wären Sie heute nicht so, wie Sie sind.« Erst da ist mir bewusst geworden, dass die ganze Schikaniererei mit der Hühnersuppe einen tieferen Sinn hatte: Meine Mutter hat mir durch eine anständige Erziehung zu meinem ersten Job verholfen. Und jetzt zu meiner eigenen Kolumne.
Was wünschen Sie sich für Ihre Mutter?
Lang soll sie leben, und gesund soll sie bleiben!
Das Gespräch führte Philipp Peyman Engel.
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Leeor Engländer wurde 1982 in Heilbronn geboren. Er lebt in Berlin und arbeitet als Referent des Chefredakteurs der »Welt«-Gruppe. Seine Kolumne »Schmonzes« erscheint jeden zweiten Montag in der Tageszeitung »Die Welt« und auf »Welt Online«: www.welt.de/schmonzes