Leon de Winter

»Man fängt an, mit dem Hund zu reden«

Hält Benjamin Netanjahu »nach wie vor für einen absolut genialen Politiker«: der Autor Leon de Winter Foto: picture alliance / dpa

Herr de Winter, wussten Sie, dass es in Deutschland Glück bringen soll, in einen Hundehaufen zu treten?
Diesen Aberglauben kennen wir auch in den Niederlanden.

In Ihrem neuen Buch geschieht dem Protagonisten Jaap Hollander in Tel Aviv genau das. Bringt es ihm nun Glück, in einen Hundehaufen zu treten, oder eher nicht?
In seinem Fall kann man sagen: sowohl als auch. Einerseits verletzt er sich danach schwer am Fuß, andererseits kommt Hollander deshalb ins Krankenhaus, wo man einen gefährlichen Tumor in seinem Gehirn entdeckt. Also rettet ihm letztendlich die Tatsache, dass er in einen Hundehaufen getreten ist, das Leben. Und obwohl er sich dessen nicht bewusst ist, hilft ihm dieser Vorfall ebenfalls, all das, was gerade um ihn herum geschieht, zu akzeptieren und im Leben selbst einen Sinn zu sehen.

Mit dieser Figur skizzieren Sie einen alternden, assimilierten niederländischen Juden, der als Neurochirurg stets an die Wissenschaft glaubte. Plötzlich funktioniert das alles nicht mehr, der Mann hört einen Hund reden. Was ist da geschehen?
Manchmal muss man eben in Scheiße treten. Es ist das Unvermeidliche, das im Leben geschieht, und zwar gerade uns als assimilierten Juden in Europa. Der Verlust der Fähigkeit zu beten, der alten Gebräuche, genau das bemerkt Hollander, auch wenn er nicht wirklich danach gesucht hat. All das geschieht aber nicht dank eines weisen Rabbiners oder Wissenschaftlers, sondern eben mithilfe eines Hundes.

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Steht Hollander exemplarisch für den Juden, der in Europa keine Zukunft mehr hat? Sie selbst haben mehrfach davon gesprochen, dass jüdisches Leben in Europa bald der Vergangenheit angehören würde.
Ja, vor einigen Jahren noch habe ich gesagt, dass das ungefähr im Jahr 2050 der Fall sein könnte. Ich glaube, ich war zu optimistisch. Einer der Gründe ist der demografische Wandel, die Präsenz einer immer größer werden muslimischen Minorität, von der selbstverständlich nicht alle Antisemiten sind, aber ein nicht unwesentlicher Teil. Das wird unsere Kultur verändern. Heute bin ich überzeugt, dass Europa bereits 2040 »judenrein« sein wird.

»Judenrein« ist ein historisch ziemlich vorbelasteter Begriff.
Deshalb benutze ich ihn ja auch.

Wie viel Leon de Winter steckt in Jaap Hollander?
Man kann keine Geschichte schreiben, wenn es nicht eine gewisse Nähe zu dem Protagonisten gibt. Die Figur ist jedoch einem Verwandten nachempfunden, der ebenfalls Mediziner ist. Aber wie Hollander stehe ich unter dem Eindruck der Absurditäten im Leben, ahnte ebenfalls nicht, dass ich Hunde mag, bis meine Frau vor über 18 Jahren einen Welpen ins Haus brachte, einen großartigen Hund, der kürzlich erst verstorben ist. Und wenn man als Autor allein arbeitet, dann fängt man auch an, mit dem Hund zu reden.

Auch Sie hatten sich kurz vor dem 7. Oktober 2023 in Israel den Fuß gebrochen, weshalb Sie nach Amsterdam zurückkehrten. Ihr Protagonist dagegen bleibt und fährt am 6. Oktober genau dorthin, wo Stunden später Grauenhaftes geschieht. Kann Israel das »Safe Space«-Versprechen für Juden doch nicht einhalten?
Der Staat hat versagt, aber nicht aufgrund negativer Absichten. Vielmehr gab es zu viel Vertrauen. Man konnte sich in Israel dieses Ausmaß an Hass und Blutrünstigkeit, das vor nichts haltmacht, einfach nicht vorstellen. Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass in einer offenen und lebensbejahenden Gesellschaft wie der israelischen diese Vorstellungen von Grausamkeit langsam verschwunden sind und man diesen Judenhass allenfalls noch aus Geschichtsbüchern kennt. Das ist der Schock, und der hält weiterhin an.

In »Recht auf Rückkehr«, das 2024 spielt, zeichneten Sie vor über 15 Jahren ein dystopisches Bild von Israel. Wie sehen Sie Ihre Prognose heute?
Damals wollte ich mir das Schlimmste, das geschehen könnte, vorstellen, also wohin es führen kann, wenn die Auseinandersetzungen zwischen Ultraorthodoxen, Nationalreligiösen und Liberalen das Land zum Kollaps bringen. Diese Konflikte existieren und trugen mit dazu bei, dass Yahya Sinwar 2023 wohl den Eindruck hatte, die Juden würden sich gerade gegenseitig mehr hassen, als dass sie die Hamas fürchten, weshalb er am 7. Oktober den Angriff befahl. Dieses Massaker, das teilweise durch den Eindruck der Uneinigkeit erfolgt war, demonstrierte aber die Fähigkeit der israelischen Gesellschaft zur Einigkeit, wenn es darum geht, das Land zu verteidigen. In Interviews betonte ich vor über 15 Jahren: Sagt mir 2024, dass ich mit meiner Prognose völlig falsch lag. Ich wollte auch falsch liegen. Aber ganz so falsch lag ich dann wohl doch nicht.

In einem Interview bezeichneten Sie 2021 Ministerpräsident Benjamin Netanjahu einmal als brillantesten Politiker in der Geschichte Israels. Würden Sie das heute auch noch so sagen?
Ich weiß, es wird einigen Leuten wehtun zu hören, dass ich Netanjahu nach wie vor für einen absolut genialen Politiker halte. Das muss man auch sein, um über so viele Jahre hinweg immer wieder die richtige Balance zu finden, seine Koalitionspartner in den Griff zu bekommen und zudem mit Personen wie Joe Biden, Donald Trump oder auch Wladimir Putin agieren zu können. Mittlerweile ist Netanjahu vielleicht eher ein tragisches Genie, weil er so lange im Amt ist, was Probleme mit sich bringt. Aber ich würde mich auch heute nicht von meiner Aussage von 2021 distanzieren wollen.

Sie leben in Amsterdam. War die Jagd auf die Fans von Maccabi Tel Aviv vor einigen Wochen eine Überraschung?
Für mich war das alles andere als eine Überraschung. Man konnte es seit Jahren kommen sehen, vor allem hier in Amsterdam, mitten in unserer liberalen Gesellschaft. Und so etwas wird kein Einzelfall bleiben, sondern wieder und wieder geschehen, weil sich die Rahmenbedingungen nicht ändern werden. Außerdem fühlen sich die jungen Muslime dazu ermächtigt.

Wie meinen Sie das?
Junge Muslime haben ein überzeugendes Argument, Juden und Israel zu hassen, und zwar die Behauptung, dass Juden die schlimmsten Unterdrücker auf der Welt seien. Damit wachsen sie bei uns auf, das wird ihnen in den Moscheen und auf Al-Dschasira rund um die Uhr erzählt. Deswegen konnte in Amsterdam das geschehen, was geschehen ist, und es war nur eine Sache des Glücks, warum niemand getötet wurde.

Also sind solche Vorfälle die neue Normalität?
Diese Einstellungen in den migrantischen Communitys werden stärker und stärker. Ich habe keine Ahnung, wie man im Westen diesem Phänomen der radikalisierten jungen, zumeist muslimischen Männer begegnen kann, also wie Gesellschaften, die besonders stolz auf ihre Offenheit und Toleranz sind, mit diesen intoleranten Menschen umgehen sollen. Das sind Paradoxe, die sich nur schwer lösen lassen.

Und wenn das nicht gelingt?
Wir haben keine andere Wahl, wir müssen sie irgendwie lösen. Sollte das nicht geschehen, werden wir Juden die Ersten sein, die Europa verlassen.

In »Stadt der Hunde« skizzieren Sie einen namenlos gebliebenen muslimischen Herrscher, von dem man schnell ahnt, dass es der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman ist, recht positiv. Warum?
Ganz einfach: So etwas wie die Judenjagd in Amsterdam wäre in Dschidda oder in Abu Dhabi schlichtweg unmöglich. Das ist auch so ein Paradox. In unserer Welt geschehen gerade ziemlich verrückte Dinge. Es ist heute sicherer, sich als Jude mit einer Kippa in den Golfstaaten zu bewegen, als in Berlin. Das ist die Entwicklung. Und ich bin überzeugt, dass man als Israeli in wenigen Jahren problemlos über Jordanien nach Saudi-Arabien reisen kann. Ein solches Szenario beschreibe ich ja auch in meinem Buch.

Das heißt, anders als in Europa sehen Sie die Zukunft für Juden im Nahen und Mittleren Osten optimistischer?
Die Herrscherhäuser am Golf oder in Marokko stehen den Juden sehr aufgeschlossen gegenüber. Bemerkenswerterweise sind gerade sie es, die die Länder in der arabischen Welt voranbringen wollen. Das alles kann einen neuen Nahen Osten hervorbringen, natürlich nicht unmittelbar heute, aber in zehn Jahren vielleicht. Auch deswegen machte Yahya Sinwar einen Riesenfehler, als er das Massaker vom 7. Oktober befahl. Er gab damit den Israelis die Chance, spätestens mit den explodierenden Pagern im Libanon, der gesamten arabischen Welt zu beweisen, dass sie klüger und stärker sind und auch nicht einfach so von der Bildfläche verschwinden werden. Letztendlich brachte er Israel mit der arabischen Welt damit näher zusammen.

Mit dem niederländischen Schriftsteller sprach Ralf Balke.
Leon de Winter: »Stadt der Hunde«. Diogenes, Zürich 2025, 272 S., 26 €

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