Roman

»Man braucht auch Glück«

Eingeführt wird sie als »Greisin im Rollstuhl«, doch das Bild ändert sich schnell. Denn die Jerusalemer Witwe Hannah Jona mit den strahlend blauen Augen, die samt drei unverheirateten Töchtern und einer Enkelin unter einem Dach lebt, ist keineswegs so hinfällig, wie sie vorgibt.

Vielmehr mimt sie die Kranke, um Zuwendungen vom Sozialamt zu erschleichen, das ihr wiederum eine Pflegekraft aus Rumänien finanziert. Doch auf ihre alten Tage will Hannah Jona das Leben noch einmal in vollen Zügen genießen: Die 77-Jährige färbt sich wieder die Haare, lässt sich nachts in Jerusalemer Bars volllaufen und lernt schließlich den 83-jährigen Bruno kennen, in den sie sich rückhaltlos verliebt.

Und das nicht zuletzt wegen seiner Augen: »Die gibt es nur einmal auf der Welt. Es ist nicht das Blau, auch meine sind blau, es ist diese Mischung von bitter und süß, von traurig und fröhlich, von einem kleinen Kind und einem alten Mann. Mit dreiundachtzig hat er noch ein solches Drama in den Augen!«

Alltag Mit ihrem neuen Roman Zu blaue Augen, der in Israel bereits 2012 erschienen ist, zeigt sich Mira Magén – neben Zeruya Shalev die derzeit im Ausland wohl meistgelesene israelische Schriftstellerin – erneut von ihrer starken Seite. Doch im Gegensatz zu Shalev, deren neurotisch-obsessive Heldinnen beim Lesen gleichzeitig fesseln und ermüden, ist Mira Magén eine Meisterin darin, eher gewöhnliche Menschen mit ihren banalen alltäglichen Problemen derart empathisch und liebevoll zu schildern, dass die Handlung auch über mehr als 300 Seiten hinweg spannend bleibt.

Ihre Figuren sind auf der Suche nach Sinn, Glück und Liebe – und Mira Magén lässt sie nicht nur suchen, sondern auch finden. Dass der Schoa-Überlebende Bruno, der sein Leben lang allein gelebt hat, mit 83 noch eine Partnerschaft eingeht, klingt zwar erst einmal unwahrscheinlich. Trotzdem muss kein Kitschalarm ausgelöst werden, denn Mira Magén erfindet keine Happy Ends, sondern präsentiert eine Sicht, die über den Alltag hinausweist: »Obwohl sie wussten, dass es ein Flugzeug war, sagten sie: ›Schau mal, da ist ja doch ein Stern‹«, schreibt sie dem alten Liebespaar zu.

Glauben Die Autorin, die aus einer tief religiösen aschkenasischen Familie stammt, hat sich zwar von der Orthodoxie, aber nicht vom Glauben an Gott und die Menschen entfernt. Ihr Prinzip Hoffnung zieht sich in Zu blaue Augen durch alle Generationen: Sechs Frauen leben in dem alten Jerusalemer Haus. Neben der Witwe und ihrer rumänischen Pflegerin Johanna, die ständig um ihre Aufenthaltsgenehmigung in Israel fürchtet, mit ihrem Gehalt ihre eigenen Kinder unterstützt und dankbar ist für alles (»Man braucht auch Glück im Leben«, sagt Johanna), wohnen hier die drei Töchter Orna, Simona und Jardena sowie die Enkeltochter Dana.

Beruflich erfolgreich, sind Hannah Jonas Töchter in ihren persönlichen Beziehungen gescheitert: Die übergewichtige Hightech-Expertin Orna schikaniert ihre Angestellten als Ersatzbefriedigung, die Ärztin Simona opfert sich nur für ihre Patienten auf, und die gutaussehende Hotelfachfrau Jardena vernachlässigt ihre siebenjährige Tochter, die nicht geplant war.

Beschrieben wird das in Details, die viele Eltern kennen – ein Erfolgsrezept der Autorin: »Die Kleine hatte sie genervt. Sie wollte kein sauberes T-Shirt anziehen, sondern das gelbe, das sie schon gestern in die Wäsche geworfen hatte. Sie war schon richtig professionell, die Kleine, erkannte die Schwachpunkte im Nervensystem ihrer Mutter und schnitt mit der Präzision eines Laserstrahls genau dort hinein.«

Samenspende Obwohl es dafür bereits zu spät erscheint, beschließt Jardena, um die Beziehung zu ihrer Tochter zu kämpfen. Simona wird durch eine Samenspende schwanger – ein Thema, das sich durch Magéns Werk zieht und schon in Schließlich, Liebe (2002) auftaucht.

Orna wiederum entscheidet sich für neue Perspektiven im Ausland. Und dann ist da noch Rafi, die traurige Gestalt, der sich – als Dichter getarnt – im Auftrag eines Immobilienhais im Haus der Familie einmietet, um Hannah Jona zu überreden, das Grundstück zu verkaufen.

Doch jede für sich und schließlich alle zusammen kämpfen die Frauen der Familie für ihre Vision eines Jerusalem, in dem Menschlichkeit zählt. »Wie gut, dass es über den Baukränen noch den Himmel gibt«, heißt es gegen Ende des Buchs. Und Hannah Jona offenbart eine Sicht, die typisch ist für die Autorin.

Sie werde ab jetzt keine Rücksicht mehr nehmen, außer auf Gott, sagt die alte Frau: »Keine Angst, ich werde mich seinetwegen nicht bekehren, ich werde auch nicht am Schabbat auf Fernsehen und Autofahren verzichten, denn ich glaube nicht, dass ihm das fehlt. Ich sage euch aber, was ihm fehlt. Ihm fehlt der Dank.«

Mira Magén: »Zu blaue Augen«. Übersetzt von Anne Birkenhauer. dtv, München 2017, 384 S., 21 €

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